Stellen Sie sich folgende Szene vor: eine Frau in einem Kreis von Männern. Alle sind nackt. Einige der Männer stehen wie unbeteiligt in der Gegend rum, lassen ihre Hände locker ihre halbsteifen Glieder rauf- und runtergleiten. Drei Männer penetrieren die Frau in der Mitte – oral, vaginal, anal. Trotzdem gelingt es ihr noch, Kommandos hervorzubellen. Sie will es: härter, stärker, mehr. Ihre Haut glänzt vor Schweiß, ihre Augen blicken gezielt in die Kamera. Voll wilder Aggression scheint sie den Zuschauer aufzufordern, sich an der Gangbang-Orgie zu beteiligen.
Willkommen in einem Porno mit Sasha Grey! In mehr als 200 Filmen hat die Amerikanerin ihre Lust an der Unterwerfung zelebriert und ist damit nicht nur in der Pornobranche zum Star avanciert. Auch in der pornoaffinen Popkultur gilt Grey als hot, weil sie dem Klischee der Pornodarstellerin in mehrfacher Hinsicht widerspricht: optisch, intellektuell und als Visionärin. Grey zeigt sich als sexuell emanzipierte Frau, die genauso aggressiv und pervers ficken kann, wie man es gemeinhin Männern zugesteht. Ihrer Meinung nach ist es eine Form weiblicher Selbstermächtigung, sich der Mechanismen des Geschäfts zum eigenen Vorteil zu bedienen.
Über 100 Seiten Vorspiel
Aber: Die Pornobranche hat sie damit nicht revolutioniert. Und das wird sie auch nicht mehr. 2011 ist Grey aus dem Pornogeschäft ausgestiegen, hat stattdessen mit dem Hollywood-Regisseur Steven Soderbergh einen wenig erfolgreichen Kinofilm gedreht, Musik gemacht, ein Fotobuch veröffentlicht und nun einen erotischen Roman geschrieben. Der folgt Greys Mission, ein unübliches Bild weiblicher Sexualität zu zeigen. Allerdings muss die Protagonistin in Die Juliette Society mehr als hundert Seiten warten, bevor sie endlich Sex hat. Ist das nicht für jemanden wie Sasha Grey ein etwas arg langes Vorspiel?
Grey lacht laut über die Frage. Sie ist gerade auf Lesereise in Deutschland und will über ihr Buch sprechen, weniger über ihre Pornofilme. Vor dem Interview in Hamburg bittet die Begleitung vom Verlag das Gespräch nicht auf die Vergangenheit zu reduzieren, sondern auf die aktuelle Veröffentlichung zu beziehen. Grey selber gibt sich aufgeschlossen und freundlich. Das Bild der Aggressiv-Unersättlichen aus ihren Filmen wird man im Kopf zwar nicht so schnell los, aber hier auf dem Sofa des Hotels bei stillem Wasser und Earl Grey hat es gerade keinen Platz. Hier sitzt eine junge Frau, die eher mit einem Achselzucken reagiert als mit Vehemenz, wenn man ihre Ideen angreift.
Greys Buch erzählt die Geschichte einer jungen Filmstudentin, die angeregt durch die Filme Jean-Luc Godards und Luis Buñuels versucht, ihre sexuellen Phantasien auszuleben. „Das ist keine Situation, in der ich sie direkt in wilde Sexorgien hätte werfen können“, erklärt Grey mit dramaturgischen Argumenten den Romanaufbau. „Diese Phantasien müssen sich entwickeln und brauchen Zeit, umgesetzt zu werden.“
Es ist kein wirklich gutes Buch. Zwar versucht es die reaktionären Klischees des SM-Bestsellers Shades of Grey zu umgehen – Jungfrau trifft reichen Mann, der die devote Sklavin in ihr wachvögelt –, aber an die Eindringlichkeit ihrer Filme reicht Grey mit Worten nicht heran. Nicht mal die Sexszenen im Roman sind sonderlich aufregend. Obwohl sich Grey von de Sade, Voltaire und Jean-Baptiste de Boyer inspirieren ließ.
Dafür wirft Grey die ewige Frage nach der Vereinbarkeit der individuellen Wünsche mit den Regeln der Partnerschaft auf. Wie kann ich meine Phantasien in meiner Beziehung ausleben, wenn mein Partner sexuell anders tickt? In Die Juliette Society wird Catherine von ihrem Partner verlassen, nachdem sie von ihm während des Sex einen Schlag auf den Hintern fordert. Das ist nicht das Ende des Romans, aber es thematisiert einen Aspekt weiblicher Sexualität, für das im Drehbuch eines Pornos für gewöhnlich kein Platz ist. Das Recht auf Selbstbestimmung.
„Frauen neigen meiner Meinung nach mehr zur Unterwürfigkeit, im Sinne, dass sie ihre Unabhängigkeit zugunsten ihres Liebsten aufgeben“, sagt Grey. „Deshalb ist dieser Prozess, den Catherine durchmacht, so wichtig, auch in Bezug auf ihre Angst, ihren Partner zu verlieren. Das Wichtige ist, dass es ihr gelingt, diese Ängste zu überwinden.“ Sich den inneren Konflikten zu stellen, statt sie ins geheime Tagebuch zu verbannen – die Ausgangslage ähnelt Sasha Greys eigener Biographie. Auch sie hat nach einer Möglichkeit gesucht, ihren Phantasien Ausdruck zu verleihen und dabei das Risiko in Kauf genommen, Beziehungen zu Freunden und Familie aufs Spiel zu setzen. Da war sie gerade mal 18.
Grey wächst im kalifornischen Sacramento in einer stinknormalen Familie auf – es gibt weder Vernachlässigung noch Drogenabhängigkeit noch andere Bedingungen von denen man sagt, sie begünstigten den Eintritt ins Pornobusiness. Greys Mutter ist katholisch und auch wenn die Familie nicht streng religiös ist, spürt die Tochter als Heranwachsende doch die Auswirkungen einer Sexualmoral, die Geschlechtsverkehr als ausschließliche Angelegenheit zwischen Eheleuten betrachtet. Aufgeklärt worden ist sie zu Hause nicht.
„Ich habe versucht, mit meiner Mutter über Sex zu sprechen“, erzählt Grey. „Aber sie ist nicht drauf eingegangen“. Als sie einer Freundin geheime Phantasien anvertraut, wendet sich diese an Greys Mutter. „,So darfst du nicht empfinden, denke nie wieder darüber nach‘, sagte meine Mum.“ Die Tochter macht aber das Gegenteil. Grey beginnt, mit ihren Phantasien zu experimentieren und sucht nach einer Möglichkeit, diese in einem sicheren Umfeld auszuleben. Sie entscheidet sich für die Pornobranche, keine leichtfertige Entscheidung, wie sie betont. Sie habe sehr wohl gewusst, dass sie dadurch ihre Beziehungen zu Freunden und Familie riskiere. „Gleichzeitig merkte ich, dass ich doch nicht so abnormal bin, wie ich gedacht hatte“, erzählt sie. „Das gab mir Vertrauen. Ich wusste, ich mache das für mich.“
Sie will Grenzen verschieben
Grey recherchiert mehrere Monate lang über die Branche, bevor sie schließlich nach Los Angeles zieht, um ins „Adult Entertainment“ einzusteigen. In einer Art Bewerbungsschreiben an den Porno-Agenten Mark Spiegler schreibt sie: „Es gibt nur wenige Pornostars, die die Grenzen dessen verschieben, was man als Frau im Bett mögen soll oder wie man zu sein hat. Ich will eine dieser Frauen sein“.
Direkt ihre erste Szene ist eine Orgie, in der sie so herausfordernd auftritt, dass sogar gestandene Darsteller wie der männliche Porno-Star Rocco Siffredi irritiert sind. Greys Lust an Unterwerfung und Erniedrigung geht einher mit einem Sinn für die absolute Kontrolle der Situation. Ein Widerspruch, den sie trotzdem zu lösen versteht. Sasha Grey benutzt die Männer in diesen Szenen, die sie in völliger Unterwerfung zeigen, sich zwischen Qual und Lust windend. Ihre Kompromisslosigkeit, sich sexuell aggressiv zu geben, ist man bei Frauen nicht gewöhnt. Sie mögen noch so sehr Lust zeigen, es ist doch immer eine vom Mann dirigierte Lust. Sasha Grey dagegen behält gern die Kontrolle. Aber geht das wirklich, wenn ihr von allen Seiten ins Gesicht ejakuliert wird?
In der Dokumentation 9 to 5. Day in Porn, in der der Regisseur Jens Hoffmann Pornodarsteller über Monate mit der Kamera begleitet hat, sieht man Sasha Grey in ihrem Home-Office sitzen und eine Bemerkung über ihre Kollegen machend, die sie als Requisite benutze. „Sie sind meine Knarre, mit der ich schieße.“
Sicherlich, Greys sexuelle Vorlieben spielen direkt in die Hände der Branche. „Härter, geiler, perverser“ ist die Maxime, die Grey bedingungslos bedient. Es ist wie mit nackten Frauen auf Magazintiteln, die ihre Entscheidung, sich auszuziehen für die feministische Errungenschaft auf Selbstbestimmung halten. Sie übersehen dabei, dass Medien und Gesellschaft Frauen nach wie vor wohlwollende Aufmerksamkeit schenken, wenn diese mit Brüsten statt mit Intellekt überzeugen.
Grey widerspricht diesem Einwand nicht. Sie sei aber überzeugt, dass die Dinge sich mehr und mehr ändern, sagt sie. Nur belegen kann sie das nicht. Wenn man von weiblichen Porno-Fans absieht, die ihr versichern, wie sehr ihnen Grey geholfen habe, sich ihre Perversionen einzugestehen. Ist es nicht bemerkenswert sich seiner sexuellen Wünsche schon als sehr junger Mensch so sicher zu sein, dass die reale Erfahrung tatsächlich zur Befriedigung führt? Gibt es bei ihr gar keine Differenz zwischen Phantasien und Realität? Grey schaut etwas irritiert. Entweder sie versteht die Frage nicht, oder sie kann einfach nichts mit der Vorstellung anfangen, dass der Wunsch nach Fesselspielen auch in ein Bondage-Trauma münden könnte. Sie sagt: „So viele Leute sind der Ansicht, dieser Job hätte mich völlig kaputtmachen müssen. Die Wahrheit ist aber, mein Sexleben ist jetzt zehnmal besser als davor.“
Ähnlich verständnislos reagiert sie auf die Frage, wieso Frauen in sämtlichen Pornos innerhalb von Sekunden zum Höhepunkt kommen und damit suggerieren, der weibliche Orgasmus bedürfe nicht mehr als ein bisschen vaginaler Penetration. Wieder lacht sie, gesteht aber auch ein, dass sie durchaus schon Frauen, sogar Pornodarstellerinnen, getroffen habe, die erzählten, noch nie einen Orgasmus bekommen zu haben. „Natürlich habe ich manchmal auch großartigen Sex, ohne zu kommen“, sagt Grey. „Aber ich weiß auch genau, was ich anstellen muss, um meinen Orgasmus herbeizuführen. Ich kenne meinen Körper sehr gut.“ Einen Pornostar vorgetäuschter Orgasmen zu überführen, wäre dann wahrscheinlich auch zu viel verlangt.
Grey will auch nicht in die Rolle gedrängt werden, ein Sprachrohr für weibliche Sexualität per se zu sein. Andere Versuche, Pornographie umzudefinieren, interessieren sie nicht besonders. Nicht einen feministischen Porno kennt sie; nur Tristan Taormino fällt ihr ein, Autorin von Büchern wie The Ultimate Guide to Anal Sex for Women oder True Lust: Adventures in Sex, Porn and Perversion. Zweifellos, Greys Mission ist die der Befreiung. Aber sie gilt nur für die Frauen, die sich wie Grey von einer bestimmten Art der Sexualität angezogen fühlen – und für die das Ausleben dieser Sexualität nicht selbstverständlich ist.
Später am Abend liest Grey im Hamburger Mojo Club aus ihrem Buch. Sie trägt dasselbe Outfit wie morgens beim Interview und verfügt trotz des langen Tages noch über eine bemerkenswert professionell gute Laune. Im begleitenden Gespräch werden die üblichen Fragen nach Buch und Karriere gestellt. Dann sagt sie etwas, das ihr Anliegen knapp zusammenfasst. Auf die Frage, was sie inspiriere, antwortet Grey: „Keine junge Frau wird dazu ermutigt, auf ihre Sexualität stolz zu sein, vor allem, wenn sie abseits der Norm ist“.
In diesem Satz liegt ihr gesamtes feministisches Potenzial. Greys Arbeiten, egal ob als Pornodarstellerin oder als Autorin, zielen darauf ab, Frauen mit ihren sexuellen Vorlieben zu versöhnen – gerade weil sie fern der gesellschaftlichen Akzeptanz sind. Dass diese Aussöhnung ein Prozess ist, der von Hindernissen, Zweifeln und Ängsten begleitet ist, konnte Grey aber in keinem ihrer Filme verdeutlichen. In ihrem Buch macht sie nun genau das.
Verena Reygers sprach für den Freitag zuletzt mit einer Müll-Archäologin darüber, was Weggeworfenes über unsere Gesellschaft verrät.
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