Was aufregt

Musik-Kolumne Unsere Kolumnistin wundert sich, dass der Mittelfinger von M.I.A. im Netz für mehr Aufregung sorgt als Whitney Houstons Tod. Großartige neue Musik gibt es von Speech Debelle

Erstaunlich wenig reagierte die Netzcommunity auf den Tod Whitney Houstons am vergangenen Wochenende. Mehr Schlagzeilen brachte die Grammy-Verleihung am Abend drauf und Adeles sensationelles Abräumen von sechs Grammys.

Aber was sind schon goldene Grammofone gegen einen aufrechten Mittelfinger. Den hielt M.I.A. die Woche zuvor in die Kameras, als Madonna ihr Popreich in der Halbzeitpause des Superbowls verteidigte.

Man könnte meinen, dass die Amis sich nach Nipplegate über ein gezielt gezeigtes Stück Fleisch weniger aufregen, aber nein, für so was muss sich von offizieller Seite entschuldigt und am besten nur noch mit Triggerwarnung verlinkt werden. Auch Madonna war nicht amused. Einerseits sei so ein Fingereinsatz kindisch, andererseits habe es in der Atmosphäre von Liebe und Zusammengehörigkeit nichts zu suchen gehabt.

Mehr noch wird sie sich aber darüber geärgert haben, dass sich die Welt nun nicht mehr an ihren famosen goldenen Slip erinnert, der während der akrobatischen Performance hervorblitzte, sondern eben an M.I.A.s Mittelfinger. So sieht man es auch bei alter.net und fragte sich außerdem, ob man die Geste gar verdient habe.

Nicht zu Ruhe kam auch Lana del Rey. Nach der Häme über ihren Auftritt bei Saturday Night Live spekulierte die Netzgemeinde über die – dann doch nicht – abgesagte US-Tour der Künstlerin. Del Rey kann das alles herzlich egal sein. Ihr Album Born to Die belegt weltweit die vordersten Chartsplätze. Also alles gut im Lana-del-Rey-Land.

Richtiggehend versöhnlich mit der Sängerin zeigte sich derweil stereogum. Im Zusammenhang mit del Reys Auftritt bei einer Plattenladenkette fallen mehrfach freundliche Worte, unter anderem über ihre "really nice" Performance bei Letterman. Und einen Link zum Video, das Lana del Rey zutraulich und entspannt inmitten heulender Fans zeigt. Demnächst werden ihr noch Muttergefühle angedichtet. Und nein, es nicht immer bloß hysterische Mädels, die Jungsbands bekreischen, manchmal sind umgekehrt die Jungs über so viel Star-Herzenswärme zum Schluchzen gerührt.

Und einen dicken Schulterklopfer gab es auch von Liz Phair. Im Speakeasy Blog des Wall Street Journal schreibt die Fuck-and-Run-Ikone, dass Lana del Rey genau das verkörpere, was sie zu inspirieren gehofft hatte, als sie sich vor zwanzig Jahren mit ihrem Debüt Exile in Guyville mit dem männlichen Rock-Establishment anlegte.

Nicht übermäßig talentiert

Dass del Rey nicht überwältigend talentiert sei, ist der Knackpunkt: Ein Wie-kann-sie-es-wagen ist selten eine Reaktion, mit der sich männliche Musiker rumschlagen müssen. Die gehen einfach hin, geben sich einen dämlichen Künstlernamen, versauen ein paar Performances und glauben trotzdem, sie seien die Größten. Mehr noch, es widerspricht ihnen keiner. Aber macht es eine Frau genauso, dann gnade ihr die Popkultur.

Als selbsternannte Anarcho-Feministin kennt sich Liz Phair aus mit Gegenwind. Ihr sexuell freizügig artikulierter Gitarrenrock machte die Popwelt wegen seiner Explizität nervös, mehr aber noch wegen des unverhohlenen Selbstbewusstseins der Frau dahinter. "Das Wichtigste war", sagt sie heute, "dass ich gehört wurde". Immerhin wurde Exile in Guyville vom Musiksender VH1 zu einem der 100 wichtigsten Alben aller Zeiten ernannt.

Kein Blatt vor den Mund nimmt auch Speech Debelle, deren zweites Album Freedom of Speech bei mir in Dauerschleife dudelt. Die englische Rapperin hat für ihr Debüt vor zwei Jahren den renommierten Mercury Music Prize gewonnen und galt da schon als legitime Nachfolgerin von Missy Elliott – nicht nur wegen des gemeinsamen Nachnamens, Debelle hört auf den bürgerlichen Namen Corynne Elliott. Allerdings vereint ihr HipHop jede Menge Soul, Jazz, Funk und Spoken Word Poetry in sich. Von Missy Elliott soll es in diesem Jahr übrigens auch ein neues Album geben, wie ihr Leib-und-Magen Produzent Timbaland verlautbaren ließ.

Zuletzt erschien 2005 The Cookbook, an das ich mich null erinnern kann, was wiederum daran liegen mag, dass Missy Elliott nach ihrem '97er Durchbruch mit Supa Dupa Fly kein berechtigter Höhenflug mehr gelungen ist. Dann lieber Speech Debelle hören ...

Verena Reygers schreibt in dieser Kolumne über Genderthemen in der Musikbranche. Sie kolumniert immer mittwochs im Wechsel mit Katrin Rönicke, die sich mit Gender- und Bildungsthemen befasst.

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Geschrieben von

Verena Reygers

Musikfetischistin, Feministin, Blames it on the Boogie

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