Wo bleibt der Mittelfinger?

Gender-Kolumne Wir brauchen wieder mehr Musikerinnen, die nicht nur nett und kokett sind, findet unsere Kolumnistin. Frauen, die auch mal widersprechen und, wenn's sein muss, ausflippen

Ein Körperteil, das ich bei vielen Musikerinnen heutzutage vermisse, ist der Mittelfinger. Statt der Welt körperbetonte Ignoranz zu demonstrieren, wird gelächelt, genickt und und adrett mit dem Po gewackelt. So ähnlich sieht es auch Guardian-Autorin Rebecca Nicholson, die die Rückkehr der hässlichen Musikerinnen fordert. „Hässlich“ ist dabei weniger als optische denn als charakterliche Anspielung zu verstehen.

Denn das waren noch Zeiten, als Sinéad O’Connor bei Saturday Night Live ein Bild des Papstes zerriss oder Nina Hagen wutschnaubend Talkshows verließ. Als Liz Phair mit „Exile in Guyville“ jungen Singer/Songwriterinnen unverblümte Vorlagen lieferte. Oder Fiona Apple sich nachahmenswert für einen MTV-Award bedankte.


Frauen, die Protest provozieren – sie sind weniger geworden. Klar, in diesem Jahr haben kleine wirre Electroladies wie Little Boots oder La Roux für Furore gesorgt. Und auch Florence and the Machine lässt ihren Tüllrock eher knarzen als knistern, aber diese Mädels sind auch alle irgendwie niedlich. Und selbst eine auf Radau gebürstete Lady Gaga reduziert die Spex auf ein Modeinterview.

Wir brauchen mehr Musikerinnen, die ihr kokettes Lächeln backstage lassen. Musikerinnen, die sich nicht blenden lassen von ein bisschen Blitzlichtgewitter, das sowieso nur den äußeren Schein erhellt. Nicht diese ganzen Pop-Prinzessinnen, die verspielt durch die Charts huschen. Denn auch Madonna, die einst als Aufreger konsequent auf der Bühne masturbierte, lässt sich heute bloß noch ans Diskokreuz nageln – für den Hausgebrauch ist das weniger geeignet.

Allerortens sehe ich männliche Künstler (und das absolut nicht allein auf die Musik beschränkt), die sich breitbeinig unterhalb der Sofasitzgrenze fläzen, während die Damen brav die Knie zusammen halten. Und nein, es reichen keine Riotgirls, die wissen, wie sich Gitarren auf der Bühne zerschmettern lassen.

Und auch keine Amy Winehouse, die es bloß deswegen noch auf den Bildschirm schafft, weil ihr Drogenkonsum so herrlich in unsere voyeuristische Welt passt. Obwohl auch mir eine verschmierter Lippenstift tragende Courtney Love zig mal lieber ist, als so glatt gebügelte Disney-Klone wie Miley Cyrus.

Wo sind sie denn, die Musikerinnen, die für Skandale sorgen, weil sie was zu sagen haben. Musikerinnen, die aus den für sie vorgesehenen Rollen ausbrechen? PJ Harvey, Patti Smith, Grace Jones oder Yoko Ono, die bis heute ihren ganz eigenen Regeln folgen - egal, ob sie dabei leise oder laute Töne anstimmen, ob sie Hose, Rock oder gar nichts tragen. Wo sind die Musikerinnen, die sich auch mal in den Sessel fläzen und nicht Ja und Amen zu dämlichen Fragen sagen. Frauen, bei denen man damit rechnen muss, dass sie widersprechen und gegebenenfalls ausflippen. Und die dann eben nicht als Zicke abgetan werden? Denn Temperamentlosigkeit ist gewiss keine Tugend.

Und wenn es nicht der Mittelfinger ist, dann dürfen Musikerinnen auch ruhig mal andere Körperteile in den Mittelpunkt stellen, die zeigen, es ist mir egal, wie ihr das findet – mir gefällt es! Das können die Fettmassen Beth Dittos sein oder auch nur ein vorübergehender Bauch, so wie bei M.I.A., als sie in diesem Jahr kurzerhand für eine Performance bei den Grammys einsprang.


Mit ihrem Neunmonatsbauch vertrat die Musikerin übrigens Rihanna, die tags zuvor von ihrem Freund Chris Brown zusammengeschlagen worden war. Bei manchen Leuten reicht halt nicht mal der Mittelfinger als Signal...

Verena Reygers, Jg. 1976, bloggt auf und schreibt als freie Journalistin über Bands, Konzerte und neue Platten. Sie findet, Mädchen sollten wild und gefährlich leben, solange sie stets ein buntes Pflaster in der Tasche haben

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Geschrieben von

Verena Reygers

Musikfetischistin, Feministin, Blames it on the Boogie

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