„Das ist eine Nullnummer“

Weltverbrauchertag Deutschlands oberster Verbraucherschützer Gerd Billen über das unerschütterliche Vertrauen der Bürger, den schwachbrüstigen Finanzmarkt-TÜV – und die Vorzüge von Analogkäse

Der Freitag: Herr Billen, Sie waren Journalist, dann Politiker – beide Berufe liegen in der Glaubwürdigkeits-Skala ziemlich am Ende. Als oberster Verbraucherschützer haben Sie jetzt quasi den Olymp der Glaubwürdigkeit erreicht. Woher kommt dieses unerschütterliche Vertrauen der Bürger?

Gerd Billen:

Ich glaube, das hat mit der Entwicklung der Märkte zu tun. In den letzten zehn, 15 Jahren ist viel Sicherheit verschwunden und durch Märkte ersetzt worden. Das fordert die Verbraucher ganz schön. Sie müssen überall das Kleingedruckte lesen. Die Verbraucherzentralen sehen sie als unabhängige Beratung. Wir sorgen für Entlastung, für Sicherheit. Aber wir profitieren wohl auch davon, dass das Ansehen anderer schwindet – Politik, Kirche, Unternehmen, da ist die Reputation im Sinkflug.

Der 15. März ist der Weltverbrauchertag. Er ist Teil einer endlosen Reihe anderer Welttage, einschließlich des Weltknuddeltags oder des Tags der Jogginghose. Sind solche Tage mehr als PR-Termine?

Der Verbrauchertag wird von der Weltvereinigung der Verbraucherverbände, von Consumers International, mit einem globalen Motto gestaltet. Dieses Jahr heißt es ‚Our Money, our rights‘. Das beschäftigt uns in allen Ländern. Es geht um das Entgleiten der Märkte, um die Explosion von Finanz­produkten. Gleichzeitig haben viele Menschen auf der Welt Probleme, grundlegende Finanzprodukte überhaupt zu kriegen, zum Beispiel ein Konto oder einen Kredit. Der Tag hat also große politische Bedeutung.

Die Koalition hat gerade einen „Finanzmarkt-TÜV“ beschlossen. Was haben Sie daran auszusetzen?

Dieser Finanzmarkt-TÜV ist eine reine Ankündigung, das wird nicht kommen. Die Erwartung, die Stiftung Warentest könne mit zusätzlich 1,5 Millionen Euro einen Finanzmarkt-TÜV aufbauen, kann nicht erfüllt werden. Auch die angekündigte Reform der Finanzaufsicht ist eine Nullnummer. Für den Verbraucherschutz ist nichts Substanzielles enthalten.

Was wäre stattdessen nötig?

Ich sehe drei Dinge: Zum einen braucht die Finanzaufsicht ein klares Mandat für den Verbraucherschutz. Das Zweite ist, dass die Wächterrolle der Stiftung Warentest und der Verbraucherzentralen gestärkt und das Angebot an individueller, unabhängiger Finanzberatung erhöht wird. Denn aus der Beratung ziehen wir auch wichtige Erkenntnisse, wo es Probleme am Finanzmarkt gibt. 1,5 Millionen Euro sind da einfach viel zu wenig. Nötig wären mindestens zehn Millionen Euro vom Bund. Und drittens muss die Bundesregierung mindestens europaweit eine Finanztransaktionssteuer durchsetzen. Am Schaden durch die Finanzkrise müssen auch die beteiligt werden, die sich daran gewöhnt haben, an diesen Krisen nur zu gewinnen.

Finanzprodukte, Internet, die Geschwindigkeit von DSL-Verbindungen – trügt der Eindruck, dass die Verbraucherzentralen sich eher abstrakten Problemen zuwenden statt den klassischen Themen wie Ernährung?

Für die Verbraucher sind auch die neuen Themen nicht abstrakt. Wenn Ihnen der Internet-Anbieter einen Vertrag mit „bis zu 16.000 Megabyte pro Sekunde“ verkauft und die Spitzengeschwindigkeit nicht erreicht, dann können Sie einfach nicht die Filme angucken, die Sie gerne gucken wollen. Die Dinge haben immer auch praktische Auswirkungen. Mit kostenpflichtigen Warteschleifen oder Kostenfallen im Internet ist es ähnlich. Aufgrund von Gesetzeslücken konnten sich Betrüger da bislang austoben. Nun gibt es strengere Regeln, für die wir uns lange eingesetzt haben. Für Lebensmittel haben wir einen hohen Standard, da wird vieles als Skandal bezeichnet, was bei näherer Betrachtung nicht zu exorbitanten Gesundheitsgefahren führt. Allerdings reagieren Verbraucher auf das Thema Lebensmittel sehr sensibel.

Sie haben vor einigen Monaten die Seite Lebensmittelklarheit.de gestartet, auf der Verbraucher Täuschungs­versuche der Ernährungs­industrie melden können. Wird das angenommen?

Oh ja, wir haben viele Tausende von Verbrauchern, die Produkte melden.

Was wird dort angezeigt? Gibt es ein „Best of“ des Dummenfangs?

Es gibt drei Gruppen von Beschwerden. Die eine betrifft alles, was mit Fruchtdarstellung zu tun hat: Auf der Joghurt­packung die Riesenerdbeere, aber dann findet man im Joghurt nur Spuren von Früchten. In vielen Fällen ist das legal, und das ist umso ärgerlicher. Das Zweite ist: Es wird mit etwas geworben, was nicht enthalten ist – Lebensmittel ohne Geschmacksverstärker, wo man dann Hefeextrakt findet, der natürlich den Geschmack verstärkt. Zum Dritten geht es oft um regionale An­gaben. Was ist Schwarz­wälder Schinken? Muss das Schwein dort gefüttert werden, muss es ihn gesehen haben, oder muss der Schinken nur irgendwann mal auf seinem Weg von Dänemark in den Süden im Schwarzwald haltmachen? Wir werten alle Hinweise aus, um zu sehen, was neu geregelt werden muss.

Zeigt sich schon Wirkung? Haben wir bald weniger Analogkäse und gepresstes Hühnereiweiß als Fischersatz?

Die Verbraucher üben durch die Veröffentlichung tatsächlich heilsamen Druck aus. Ungefähr ein Drittel der Hersteller ändert die Kennzeichnung. Viele andere machen es allerdings nicht. Die Lebensmittelwirtschaft leidet darunter, dass wir alle nicht mehr können, als uns satt zu essen. Täuschungsversuche erklären sich oft daraus, dass es in einem übersättigten Markt angeblich immer neue Verbesserungen braucht, um Kunden zu gewinnen. Denken Sie an die sogenannten Kinderlebensmittel oder angeblich gesundheitsfördernde Margarine mit Cholesterinhemmern. Das ist im Kern alles Käse.

Aber ist nicht das Hauptproblem, dass wir uns auf in­dustrielle Billigstproduktion verlassen und Lebensmittel zu billig einkaufen wollen?

Nein, das finde ich nicht. Die Tests der Stiftung Warentest zum Beispiel ergeben keine Korrelation zwischen dem Preis und der Qualität des Lebensmittels. Ein günstiger Preis muss nicht bedeuten, dass die Inhaltsstoffe qualitativ schlecht sind. Insofern überzeugt mich das Argument nicht so richtig. Beim Analogkäse würde ich sagen, wenn man den aus vernünftigem Pflanzenöl herstellt, kann er sogar besser sein für Ihre Gesundheit und allemal fürs Klima als Käse aus Milch. Er ist falsch deklariert worden, das ist nicht in Ordnung. Aber das Produkt muss nicht deswegen schlecht sein.

Das heißt, solange man es nicht Käse nennt, ist es okay?

Ja genau.

Aber wenn man die ganze Wahrheit über Klebefleisch kennt, wer möchte das dann noch kaufen?

Naja, es gibt ja auch andere Klebeprodukte, zum Beispiel normale Fleischwurst. Wurst war immer schon ein Produkt, wo unterschiedliche Fleisch­teile verarbeitet wurden. Entscheidend ist: Schinken ist in einer anderen Preisklasse. Die Täuschung liegt darin, etwas Billiges für etwas Besseres auszugeben.

Gerd Billen, 57, ist Ernährungswissenschaftler und Chef des Bundesverbands der Verbraucherzentralen (vzbv). Zuvor war er lange Geschäftsführer des Naturschutzbundes Deutschland, Kommunalpolitiker der Grünen und freier Journalist.


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Geschrieben von

Verena Schmitt-Roschmann

Verena Schmitt-Roschmann ist Ressortleiterin Politik des Freitag.

Verena Schmitt-Roschmann

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