Alles auf Anfang

Regierung Vor allem zu Beginn der Euro-Krise hat Bundeskanzlerin Merkel entscheidende Fehler gemacht. Nun holen sie die Folgen ein

Die Stimmung ist ausgezeichnet an diesem Tag in Luxemburg, und zumindest nach außen hin demonstrieren Ministerpräsident Jean-Claude Juncker und Bundeskanzlerin Angela Merkel größte Einigkeit. „Ich bin sehr dezidiert der Auffassung, dass Griechenland keine Hilfe in Anspruch nehmen muss“, versichert Juncker beim offiziellen Besuch der Kanzlerin. Und Merkel stimmt ein: „Ich schließe mich an. Nach meiner Beurteilung braucht Griechenland keine Unterstützung.“

Es ist Anfang März 2010, und die Griechenland-Krise braut sich schon fast ein halbes Jahr lang zusammen. Im Oktober 2009 hat die neue sozialistische Regierung Papandreou die von ihren Vorgängern verschleierte Katastrophe eingeräumt: Nicht bei sechs Prozent der Wirtschaftsleistung liegt die Verschuldung des Landes, sondern mit 12,7 Prozent mehr als doppelt so hoch. Wenig später schicken die Rating-Agenturen griechische Anleihen auf die Rutschbahn zum Ramschniveau, Anfang Februar 2010 sieht sich der EU-Gipfel gezwungen zu einer ersten Garantieerklärung für den Staat.

Rede von der „ultima ratio“

Somit hätte Anfang 2010 jeder sehen können, dass Griechenland seine Schulden niemals werde zurückzahlen können, sagt der Ökonom Ferdinand Fichtner vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW). „Schon damals hätte man anfangen müssen, was jetzt mühsam begonnen wird, nämlich die Banken auf den Schuldenschnitt vorzubereiten.“ Tatsächlich dauert das jedoch weitere 18 Monate – eineinhalb Jahre, in denen Merkel immer wieder bremst und sich dann doch einlässt auf den hektischen Wettlauf mit den Märkten, während sich eine weitere Bankenkrise und eine mögliche neue Rezession anbahnen.

Merkel ist seither für ihr Zaudern immer wieder gescholten worden. Von Helmut Schmidt bis zum Weltbankpräsidenten sehen Kritiker Deutschland als Teil des Problems. Zu keinem Zeitpunkt aber war die Unentschlossenheit der Bundesregierung so ausschlaggebend wie zu Beginn der Euro-Krise Anfang 2010. „Es gab keine gemeinsame Linie in Europa, und die deutsche Politik sorgte für zusätzliche Verunsicherung“, meint DIW-Experte Fichtner. „Merkel wurde zerrieben zwischen den europäischen Notwendigkeiten auf der einen Seite und den Ansprüchen der deutschen Bevölkerung auf der anderen Seite.“

Denn im März 2010 – das Kabinett Merkel II ist gerade vier Monate im Amt und beschäftigt mit seinem holprigen Start, den Folgen der Rezession und dem Scheitern des Klimagipfels von Kopenhagen – baut sich bereits erheblicher innenpolitischer Druck auf. Es ist Wahlkampf in Nordrhein-Westfalen, und die CDU bewegt sich nach einem Spitzenergebnis von knapp 45 Prozent 2005 auf Umfragewerte von 35 Prozent zu. Die Kampagne der Bild-Zeitung gegen die „Pleite-Griechen“ läuft auf vollen Touren. Als Ministerpräsident Giorgos Papandreou Anfang März nach Berlin kommt, stellt das Massenblatt klar: „Ihr griecht von uns nix!“

In dieser aufgeheizten Stimmung testet Merkel mehrere Optionen. Als Versuchsballon spricht sie davon, Griechenland und andere Schuldensünder aus der Währungsunion auszuschließen – was der französische Präsident Nicolas Sarkozy und der damalige britische Premier Gordon Brown jedoch abschmettern. Auch über Insolvenz redet die Kanzlerin bereits und räsoniert über mögliche Regeln dafür. Es gehe um „eine ultima ratio, die sozusagen quasi auch die Insolvenz eines Staates ordentlich ordnet“, sagt sie nach ihrem Treffen mit Juncker. Doch aus den Andeutungen folgt vorerst nichts.

Stattdessen fügt sich Merkel in äußere Zwänge. Noch am 22. März 2010 wiederholt sie: „Ich glaube nicht, dass Griechenland im Moment Geld braucht.“ Doch nur Tage später ist klar: Ohne Hilfe ist Athen zahlungsunfähig. Am 2. Mai 2011 sagen Europäische Union, Europäische Zentralbank und Internationaler Währungsfonds den Griechen ein Hilfspaket von 110 Milliarden Euro zu. Deutschland schultert die Haftung für 22,4 Milliarden Euro, zumeist in Form von staatlich verbürgten Krediten der KfW-Bankengruppe.

Für Merkel ist es eine dramatische Kehre. Im Gegenzug pocht sie auf Einbindung des IWF und drastische Sparauflagen für die Griechen, um die Märkte mit Schuldenabbau zu beruhigen. Doch zeigen sich die Finanzjongleure wenig beeindruckt. Nur eine Woche später müssen die Europäer nachlegen: Ein Rettungsschirm von 750 Milliarden Euro soll alle Zweifler, Spekulanten und Hasardeure endlich überzeugen, dass die Euro-Staaten Wackelkandidaten nicht fallen lassen.

Doch trotz dieser Riesensumme kommt die politische Botschaft nicht an – weil sie nur halbherzig vorgebracht wird, wie DIW-Experte Fichtner meint: Merkel „hätte sich mit Sarkozy hinstellen und sagen müssen: Dieser Rettungsschirm ist so groß, dass er auf jeden Fall reicht. Es lohnt sich nicht, gegen einen so großen Rettungsschirm zu zocken. Dieses Signal hat damals gefehlt.“ SPD-Exfinanzminister Peer Steinbrück kritisiert später, dass Deutschland zwar den Rettungsschirm mitträgt, gleichzeitig aber verkündet, er werde nicht in Anspruch genommen. „Das war alles andere als ein klares Signal“, hält Steinbrück Merkel später im Bundestag vor.

Merkel und Co. torkeln weiter

Björn van Roye vom Kieler Institut für Weltwirtschaft sieht das ganz ähnlich. „Das Bedürfnis des Marktes nach einem starken politischen Signal ist unterschätzt worden“, glaubt der Finanzexperte. „Man hatte immer das Gefühl, dass es keinen richtigen Plan gibt.“ Versäumt worden seien in dieser kritischen Anfangsphase aber vor allem wichtige Richtungsentscheidungen. „Das Systemische wurde nicht angegangen“, sagt van Roye. Insolvenzregeln für Staaten und Auffangpläne für einen Schuldenschnitt beispielsweise seien nicht vorangekommen. „Das, was jetzt gemacht wird, hätte man schon wesentlich früher angehen müssen“, ist der Experte überzeugt.

Stattdessen torkeln Merkel, Sarkozy und die EU-Partner weiter durch die Krise. Im Herbst 2010 flammt die Debatte über Euro-Bonds auf, was Berlin mit Hinweis auf die verbotene Transferunion abblockt. Im Dezember beschließen die Getriebenen den permanenten Rettungsschirm ESM, im Frühjahr 2011 eine Aufstockung des provisorischen Fonds EFSF, im Juli ein weiteres Griechenlandpaket und neue Rettungsinstrumente. Erst Anfang Oktober 2011 verkünden Merkel und Sarkozy das Ende des Durchwurstelns und versprechen nun ein „Gesamtpaket“.

Damit kehrt die Diskussion zurück zu der schon vor anderthalb Jahren erwogenen Insolvenz. Mit dem Unterschied, dass die Transferunion nun Wirklichkeit ist. Aus dem ersten Griechen-Hilfspaket sind 16,2 Milliarden Euro an KfW-Krediten nach Athen geflossen, wie das Herbstgutachten der Wirtschaftsinstitute vermerkt. Werden den Griechen bis zu 60 Prozent erlassen, erhöht sich automatisch entsprechend die deutsche Staatsschuld. Auch die von der EZB aufgekauften griechischen Ramschpapiere könnten nun teuer werden. Erstmals in dieser Euro-Krise droht Menschen ein Verlust, die noch nie einen Cent übrig hatten für das Casino der Zocker.

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Geschrieben von

Verena Schmitt-Roschmann

Verena Schmitt-Roschmann ist Ressortleiterin Politik des Freitag.

Verena Schmitt-Roschmann

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