Die Wende kam mit der Geschichte über die Bahncard 100. Der Start für den designierten SPD-Kanzlerkandidaten Peer Steinbrück war bereits gründlich vergeigt, halblaut kursierten gar die ersten Rückzugsforderungen, da sah die Bild-Zeitung die Gelegenheit, noch ein Tröpfchen Öl aufs Empörungsgetriebe zu träufeln: Steinbrück habe seine vom Steuerzahler finanzierte Netzkarte auch für Bahnreisen zu seinen Vorträgen genutzt, meldete das Blatt vergangene Woche.
So etwas kann einen Schwankenden kippen, einen Wankelmütigen zur Einsicht bringen, dass es vielleicht angenehmer wäre, das nächste Jahr statt auf der Abschussrampe lieber auf gut dotierten Vortragsreisen zu verbringen. Bei Steinbrück aber ging die Sache anders aus. Daran ändert auch die missglückte Berufung des Online-Beraters Roman Maria Koidl nichts. Der Kandidat attackiert, als wäre nichts gewesen – am Mittwoch in der Haushaltsdebatte und am Donnerstag in einem Pressegespräch. Steinbrück will keinen Zweifel lassen: Er wird nicht vorzeitig weichen.
Tatsächlich muss er sich um seine offizielle Nominierung am 9. Dezember wohl keine Sorgen machen. Denn der Mann hat in der SPD scheinbar keine Gegner mehr. Es hat das große Schönreden begonnen in seiner Partei, wo er vielen noch vor kurzem als rechtslastiger Agenda-2010-Apologet und arroganter Besserwisser galt. Die Hinterzimmernominierung durch seine beiden Mit-Troikaner Sigmar Gabriel und Frank-Walter Steinmeier Ende September schockte viele an der Basis, die dann auch noch die zähe Debatte über die Nebeneinkünfte des Honorarmillionärs durchleiden musste. Aber irgendwann wirken die ursozialdemokratischen Solidaritätsinstinkte wohl selbst für den eigenen Kandidaten.
Von vorne bis hinten verlogen
„Irgendwann ist ein Thema durchgekaut, dann ist es auch vorbei“, sagt einer aus dem SPD-Vorstand, der eigentlich lieber einen anderen Kanzlerkandidaten gehabt hätte. Wenn selbst Bild nichts mehr anderes im Köcher habe als eine Bahncard 100, dann werde die Empörungswelle bald abflauen. Der SPD-Sozialexperte Karl Lauterbach sieht das ganz ähnlich: „Die Berichterstattung ist schlicht unfair. Die ganze Debatte ist von vorne bis hinten verlogen.“
Verlogen wirken könnte es freilich auch, wenn ein Mann mit bis zu 15.000 Euro Stundensatz bald 8,50 Euro Mindestlohn bewirbt; wenn ein recht ordentlich bezahlter Abgeordneter mit Inbrunst verkündet, er verstehe nicht, warum immer nur die anderen Geld verdienen dürften und nie ein Sozialdemokrat. Im ARD-Deutschlandtrend sackten Steinbrücks Sympathiewerte Anfang November um sieben Punkte auf nur noch 30 Prozent ab. Dass sich der SPD-Mann für soziale Gerechtigkeit einsetzen wird, glauben nur noch 35 Prozent, ein Minus von fünf Punkten.
Lauterbach jedoch behauptet tapfer, das habe alles noch gar nichts zu bedeuten. „Warum sollte nur ein Durchschnittsverdiener gute Politik für Durchschnittsverdiener machen können? Ich mache Politik für Kranke und Arbeitslose, aber das heißt ja auch nicht, dass ich selbst krank und arbeitslos sein muss.“ Steinbrück habe seinen Fehler eingestanden, von den Stadtwerken Bochum 25.000 Euro eingeheimst zu haben, alle anderen Vorträge und Honorare aber seien legitim. Immerhin hätte Steinbrück ja die Politik auch verlassen und noch viel mehr verdienen können, argumentiert Lauterbach. Nun jedenfalls gehe es mit Inhalten und Politik voran: „Er beginnt ja jetzt erst, mit Themen um die Sympathie zu werben.“
Die eigene Partei scheint dieses Werben bereits zu betören. Plötzlich lobt selbst die SPD-Linke Steinbrücks Pläne für Bankenregulierung, Steuern, Renten. Beim Roten Salon der SPD-Frauen punktete der Kandidat Anfang November, als er sich für Mindestlohn und Lohnangleichung ereiferte und das Betreuungsgeld als „Schwachsinn“ geißelte. Die nächste Station: der Juso-Bundeskongress in Magdeburg vergangenes Wochenende.
Nicht immer lupenrein
Wie symbolhaft steht Steinbrück da mit seiner blassrosa Krawatte vor grellrotem Grund und bemüht den kalten Pragmatismus. „Alle Ungläubigen begrüße ich auch sehr herzlich“, sagt er zur Einstimmung, und, dass man sich ja nicht gegenseitig hinter die Fichte führen müsse: „Ein Teil von euch wollte eine andere Kanzlerwahl.“ Gekommen sei er trotzdem, weil er wisse, dass die Jusos eine kampfstarke Truppe seien. „Ich brauche euch für die Mobilisierung des Wahlkampfs!“ Da müssten die Meinungsunterschiede zurückstehen.
Die Jusos sollten sich nicht auf Linientreue versteifen, denn er müsse ja nicht nur an die SPD-Anhänger, sondern an „60 Millionen Wählerinnen und Wähler“ ran. „Diese Wähler erreiche ich mit anderen, nicht unbedingt immer den lupenreinsten sozialdemokratischen Positionen“, erklärt er entwaffnend offen. „Worauf es ankommt, ist, dass wir in einen Modus kommen, diese Wahlen zu gewinnen.“
Bisweilen fragt man sich bei diesem Auftritt, wie Steinbrück es schafft, mit solchen Reden 15.000 Euro zu verdienen. Die Hände arbeiten, das ja. Mal segeln sie auf Brusthöhe, mal ziehen sie, geht es um die soziale Kluft im Land, ein imaginäres Gummiband von links unten nach rechts oben. Doch erkennt, wer je eine Steinbrück-Rede gehört hat, die Versatzstücke mühelos wieder. Ganze Passagen in Magdeburg bestreitet er aus seiner Bundestags-Rede gegen das Betreuungsgeld, und die Formulierung zur veränderten „Mechanik der Republik“ nach dem ersehnten rot-grünen Wahlsieg in Niedersachsen ist ebenfalls nicht mehr taufrisch.
Dazu die ganze Attitüde des Oberlehrers vor den Pennälern: Ihr findet mich doof, und ich kann euch nicht ausstehen, aber wir sind nun mal zusammen auf Klassenfahrt, und ihr reißt euch jetzt bitteschön zusammen!
Verblüffenderweise zünden diese humorlos vorgetragenen Ermahnungen trotzdem. „Lasst uns kämpfen für unseren Bundeskanzler Peer Steinbrück“, ruft danach ein junger Delegierter aus Baden-Württemberg ins Mikrofon. Und der Veit aus NRW fände es schön, mal wieder einen Bundeskanzler aus seinem Bundesland zu haben. „Lass uns gemeinsam rocken, und lass uns Angie einen Arschtritt geben“, jubelt er im Überschwang. Das ist mehr, so sieht es auch Steinbrück, als er erwarten durfte.
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