Fast ein Jahrzehnt hat es gedauert, bis sich die Union auf unbekanntes Territorium wagte. „Es gibt eine weiße Landkarte – kein Tabu“, sagte Bundesumweltminister Norbert Röttgen (CDU) am Freitag nach seiner Einigung mit den Ländern, neben Gorleben weitere Standorte als Atomendlager zu prüfen. Für die CDU ist das ein großer Schritt, und die Grünen lobten schon einmal. Umweltschützer und Atomgegner fürchten allerdings eine Finte.
Schon 2002 hatte der von Röttgens Vorvorgänger Jürgen Trittin (Grüne) eingesetzte Arbeitskreis Endlager (AkEnd) den Weg zur geordneten neuen Suche in groben Zügen vorgezeichnet. Statt einer freihändigen politischen Festlegung wie 1977 in Gorleben solle es vorab festgelegte Kriterien, eine breite Beteiligung der Öffentlichkeit und eine echte Auswahl zwischen unterscheidbaren Optionen geben, verlangten die Wissenschaftler damals. „Eine glaubwürdige Standortentscheidung erfordert, dass mindestens an zwei Standorten untertägige Erkundungen und Sicherheitsbewertungen durchgeführt, das Entwicklungspotenzial unter Berücksichtigung der Regionalentwicklungsmaßnahmen der Regionen bewertet und das Votum der Bevölkerung zur Errichtung eines Endlagers eingeholt werden, bevor die Entscheidung durch den Bundestag unter Beteiligung der Länder für den Endlagerstandort gefällt wird“, heißt es in den Empfehlungen im Abschlussbericht.
Der allerdings wanderte auch unter Trittin erst einmal in geräumige Schubladen, bevor der Grüne kurz vor der Bundestagswahl 2005 mit einem hastig vorgelegten Suchgesetz scheiterte. Die Große Koalition versprach zwar in ihrem Regierungsprogramm vollmundig eine rasche Lösung, brachte aber rein gar nichts zustande, bevor Umweltminister Sigmar Gabriel (SPD) kurz vor der Bundestagswahl 2009 Gorleben für tot erklärte. Röttgen wiederum erweckte den Scheintoten zu neuem Leben. Im Herbst 2010 hob der CDU-Politiker, damals noch voll auf Kurs für die Laufzeitverlängerung, den im Jahr 2000 von Trittin verhängten Erkundungsstopp für den niedersächsischen Salzstock auf und ließ die Bagger wieder rollen.
Chance zum Konsens
Seine Absprachen mit den Ländern am Freitag waren jetzt nur die letzten fünf Zentimeter einer Wende, die Röttgen nach der Entscheidung zur Laufzeitverkürzung im Sommer begonnen hatte. Schon da sprach der Umweltminister von einem Endlagersuchgesetz und der Prüfung möglicher neuer Standorte; neu dazu kam seither vor allem der Vorschlag des baden-württembergischen Umweltministers Franz Untersteller (Grüne) für ein konkretes Auswahlverfahren zweier Standorte bis 2021.
Nun beschwört Röttgen die große Chance zum Konsens, und auch Trittin meinte am Freitag in der ARD: „Wir haben zum erstenmal die Chance, seit drei Jahrzehnten zu so etwas zu kommen wie dem Endlagerkonsens.“ Sein Parteifreund Winfried Kretschmann, Ministerpräsident in Baden-Württemberg, erinnerte nach dem Treffen mit Röttgen daran, dass die Endlagersuche eine schwierigsten Fragen sei, die das Land zu beantworten habe, eine epochale Entscheidung: "Irgendwo muss das Zeugs einfach hin."
Viel klarer ist damit allerdings noch nichts, und die nun eingesetzte Arbeitsgruppe hat eine Menge Kontroversen vor sich. Denn um die gewünschten Kriterien für die neue Endlagersuche festzulegen, muss entschieden werden, ob der hochradioaktive Abfall ein für alle Mal in tiefen geologischen Formationen verstaut wird oder die Option bleiben soll, den Müll zurückzuholen. Auch Experten sind sich nicht einig. Der Umweltverband BUND etwa hat sich noch nicht auf eine Position festgelegt, wie Atomexperte Thorben Becker dem Freitag sagte. „Da brauchen wir jetzt einen ausführlichen Fachdialog.“ Legte man sich auf Rückholbarkeit fest, dann wäre Gorleben aus Sicht vieler Fachleute aus dem Rennen.
Tatsächlich hält auch Kretschmann den niedersächsischen Salzstock aber weiter für eine Option. Salzstöcke seien grundsätzlich geeignet - da ist er sich mit Röttgen einig. Und das wiederum ruft die Atomgegener im Wendland auf den Plan. „Wenn der Bundesumweltminister behauptet, die Endlagersuche beginne jetzt bei Null, dann ist das schlicht und einfach nicht die Wahrheit“, kritisierte Jochen Stay von ausgestrahlt. In Gorleben laufe die Erkundung weiter, und damit würden Tag für Tag Tatsachen geschaffen. „Wir sind entsetzt über die Abgebrühtheit, mit der Norbert Röttgen versucht, der Bevölkerung Sand in die Augen zu streuen.“
Auch BUND-Experte Becker meinte, so sinnvoll die Suche nach neuen Standorten sei, so sei doch noch nicht viel gewonnen: „Gorleben ist auf jeden Fall nicht vom Tisch. Das ist aus unserer Sicht kritikwürdig.“
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