In den Zeiten des Mantras

Parteitage Linkskurve, Mindestlohn, Überlebensfrage: Nach zwei Jahren Dauerkrise sehen sich die ­Spitzen von CDU und FDP in dieselbe Ecke getrieben

Das Symbol des Widerstands überlebt keine 30 Sekunden – vom gläsernen Eingang des Leipziger Messepalasts bis zur Sicherheitskontrolle. Dort erklären die Muskelpakete des Wachdiensts die Orangen der Aktion „Linkstrend stoppen“ kurzerhand zum Wurfgeschoss und konfiszieren die gefährliche Ware. Drei Kisten Orangen enden in schwarzen Mülleimern hinter der Absperrung.

Für Thomas Schneider ist das vermutlich nur ein weiterer Beleg, dass etwas gründlich schiefläuft in der Christlich Demokratischen Union. Dem Kreisrat aus dem Erzgebirge, der sich am Eingang des CDU-Parteitags postiert hat und die inkriminierten Südfrüchte mit dem durchgestrichenen Linksabbiegerpfeil verteilt, passt nämlich die ganze Linie seiner Partei nicht mehr. Es fehlten die christlichen Werte, die konservative Ausrichtung auf Ehe, Familie, Lebensschutz ­– alles preisgegeben von der multiflexiblen Vorsitzenden Angela Merkel. „Die Mitte hat sich nicht bewährt. Die ist verrutscht nach links, die Mitte.“ Und die Merkel, das sage er ganz offen, wäre er lieber heute als morgen los: „Sie hat mich enttäuscht.“

Gut 7.500 Unterstützer vermelden die Linkstrendstopper im Internet. Dahinter stecken unter anderen der Anwalt Friedrich-Wilhelm Siebeke, der 2004 den Parteirechten Martin Hohmann vor dem CDU-Rauswurf bewahren wollte, und der geschasste Berliner René Stadtkewitz. Der ehemalige brandenburgische Innenminister Jörg Schönbohm und der Bierdeckel-Finanzer Friedrich Merz gehören zu ihren Helden. Es sind allesamt Außenseiter, das ja. Aber seit das Murren über die Beliebigkeits-Merkel bis in den Bauch der Volkspartei vorgedrungen ist, spüren die Underdogs Thermik. Und auch die CDU-Spitze ist sich wohl nicht sicher, wie viel Sprengkraft die Dagegenbewegung in der Partei hat.

Das ist die Kulisse, vor der Merkel den 1.000 Delegierten ihrer beunruhigten Partei in Leipzig alles noch einmal haarklein erklärt. Warum die CDU jahrzehntelang die Wehrpflicht unter Naturschutz stellt und sie dann über Nacht abschafft. Warum Atomkraft vor Fukushima gut war und jetzt nicht mehr verantwortbar. Warum die Hauptschule bleibt, aber trotzdem keine Zukunft hat. Warum die CDU Mindestlöhne ablehnt, aber jetzt doch eine „Lohnuntergrenze“ will – jedenfalls ein bisschen. Das mag ein Hin-oder-Her sein oder eine neue Linie, das sei nachrangig, versichert die Vorsitzende. Denn: „Der Kompass ist unverändert.“ Merkel ist geradezu vernarrt in diese Metapher und bringt sie immer wieder: „Der Kompass ist unverändert.“

In der Linkskurve

Die Wiederholung eines Mantra, das scheint das rhetorische Mittel der Wahl in Zeiten politischer Verwirrung. Zwei Tage zuvor hat Merkels Regierungspartner Philipp Rösler beim Frankfurter FDP-Parteitag schon ähnlich monoton auf seine Schäflein eingeredet. Freiheit und Verantwortung, das seien die liberalen Werte, bleut der glücklose Neuvorsitzende seinen Delegierten ein. Freiheit, Verantwortung und Soziale Marktwirtschaft. Freiheit und Verantwortung. Soziale Marktwirtschaft, Freiheit und Verantwortung. Immer und immer wieder. Dazwischen bleibt kaum noch Raum und Zeit, die Sozialdemokratisierung der CDU zu beklagen und Widerstand anzukündigen. „Es gibt eine dramatische Linkskurve, die der Zeitgeist hingelegt hat“, dröhnt Rösler. „Es ist gut, dass es eine Partei gibt, die sich gegen den Zeitgeist stellt.“

So weit entfernt Merkel mit ihren einigermaßen stabilen Umfragewerten vom Überlebenskampf der FDP ist – die beiden Regierungsparteien sind nach zwei Jahren Euro-Krise und zwei Jahren Koalitionskrise doch in dieselbe Ecke getrieben. Beiden hilft vorerst nur die Behauptung der eigenen Unentbehrlichkeit und die Ermahnung an die Mitstreiter, doch bitte nicht mehr zu jammern. „Es ist Zeit, die Taschentücher wegzustecken“, ruft Rösler in Frankfurt als Selbstbeschwörung. Er hat nicht nur katastrophale Umfragewerte, sondern auch einen FDP-Mitgliederentscheid über den Euro-Rettungsschirm ESM am Hals. Für den prophezeien seine Helfer in der FDP-Spitze zwar tapfer ein glorreiches Scheitern, sind sich dessen aber offenbar nicht im Mindesten sicher. In der CDU kämpft Merkel ihrerseits gegen Ratlosigkeit und Ermüdung beim europapolitischen Kurs. Beim Parteitag übernimmt der frühere sächsische Ministerpräsident Georg Milbradt die Rolle des liberalen Rebellen Frank Schäffler und ruft in seiner langen und erbitterten Rede, der Euro sei nicht die Lösung: „Der Euro ist das Problem.“

Schließlich scharen beide – Merkel und Rösler – die Delegierten noch einmal hinter sich und hängen die Euro-Skeptiker fürs Erste ab. Doch geklärt ist damit nicht viel. Bei den Liberalen läuft der Mitgliederentscheid, der mit einem Überraschungserfolg das schwarz-gelbe Bündnis aushebeln könnte, noch bis Anfang Dezember. Und bei der CDU ist der beschlossene Leitantrag in vielem so grundsätzlich – zum Beispiel bei der angestrebten Direktwahl des EU-Kommissionspräsidenten –, dass er von den strudelnden Zeitläuften rasch weggespült werden könnte. Der CDU-Plan einer Finanzmarktsteuer allein in der Euro-Zone ist wegen des Widerstands der FDP ohnehin wacklig.

Praktischer Mindestlohn

Auch beim Mindestlohn hilft der in letzter Minute erzielte CDU-Kompromiss kaum weiter. Die Tarifpartner, die es ja bisher nicht geschafft haben, Friseurinnen oder Fleischer vor Dumpinglöhnen zu bewahren, sollen es nun in einer neuen Kommission noch einmal probieren. Da besteht aus Sicht des Unionswirtschaftsflügels, der gegen einheitliche Mindestlöhne Sturm läuft, wohl nicht die geringste Gefahr einer Umsetzung. Damit ginge es den neuen Leipziger Beschlüssen nicht anders als jenen des Jahres 2003, als Merkel in der Messestadt die neoliberale Neuerfindung der Partei probte.

Die eigentlichen Mindestlohnexperten beim Leipziger Parteitag nehmen das Gerede dort jedenfalls gelassen. In einer Reflektorweste und mit Basecap steht vor der Messehalle ein älterer Herr in der Herbstsonne und sinniert, dass ein bisschen mehr Lohn sicher nicht schlecht wäre. Mehr Geld in der Tasche, das belebt die „Konsumption“, meint der Parkplatzeinweiser, der eigentlich Flugzeugingenieur ist. Seit 2005 jobbt er als 400-Euro-Kraft bei der Messe, weil nichts anderes zu finden war. Im Frühjahr ging er mit 63 offiziell in Rente.

Für seine Arbeit zwischen den großen Limousinen macht das keinen Unterschied. Nur Verdi hat etwas verändert, wenn auch nur sehr vorübergehend. Als die Gewerkschaft neulich ihren Kongress in der Messehalle abhielt, bestand sie auf einem Mindestlohn von 8,50 Euro für alle Beschäftigten – auch für die Sicherheitsleute vor der Halle. „Das wollte ich schwarz auf weiß sehen“, erinnert sich der Mann. Und tatsächlich: Der Lohn auf seiner Abrechnung ging einmal rauf. Und dann wieder runter.

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Geschrieben von

Verena Schmitt-Roschmann

Verena Schmitt-Roschmann ist Ressortleiterin Politik des Freitag.

Verena Schmitt-Roschmann

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