Wenn die Versicherung nicht sichert

Sozialsysteme Der Streit über die Rente mit 67 ist nachrangig: Für die Renten- und die Arbeitslosenversicherung stellt sich eine viel tiefer gehende die Sinnfrage

Es gibt Neues aus dem Reich der politischen Finte. CSU-Chef Horst Seehofer stänkert gegen die Rente mit 67, die er und seine Partei 2007 in der Großen Koalition 2007 mit beschlossen haben. Und das zum Start der Reform knapp fünf Jahre später, wo (leider, leider) nichts mehr zu ändern ist. Das ist billig. Nicht viel glaubwürdiger ist allerdings die Position der SPD, die sich damals von ihrem Sozialminister Franz Müntefering mit der Reform überrumpeln ließ und nun aus sicherer Opposition heraus die Aussetzung fordert.

All das ist ärgerlich, aber doch nur Geplänkel. Der politische Kern liegt woanders: Die sozialen Sicherungssysteme wurden – übrigens meist mit breiten politischen Mehrheiten - in einer Art und Weise therapiert, dass sie soziale Sicherung nicht länger systematisch leisten. Über das Dogma niedriger Lohnnebenkosten verlieren gerade die Renten- und die Arbeitslosenversicherung zunehmend ihre Funktion als Schutznetz für jene, die es am dringendsten brauchen.

Überlebensfrage für das System

Die gesetzliche Rente wird nach den Reformen des vergangenen Jahrzehnts nur noch für langjährig stabil beschäftigte Gutverdiener im Alter zum Leben ausreichen. Das Entscheidende ist dabei die 2004 beschlossene drastische Senkung des Rentenniveaus bis zum Jahr 2030. Für Millionen Menschen in Arbeitslosigkeit oder in volatiler und prekärer Beschäftigung wird die gesetzliche Rente keine relevante Größe oberhalb der Sozialhilfe mehr erreichen. Die Rente mit 67 wirkt dagegen fast nachrangig. Sie verschärft höchstens den bereits absehbaren gefährlichen Trend - falls tatsächlich, wie befürchtet, auch in zehn oder 15 Jahren Jobs für Alte fehlen und Minirenten mit Abschlägen weiter beschnitten werden.

Für die Rentenversicherung stellt sich dieselbe Sinnfrage, die sich auch für die Arbeitslosenversicherung auftut, wenn diese jeden Vierten nach einem Jobverlust eben nicht mehr absichert, sondern in die staatliche Fürsorge fallen lässt. Betroffen ist wiederum die Gruppe von Beschäftigten, die mangels eigener Ressourcen auf Versicherungsschutz am meisten angewiesen wäre: Billigjobber und Zeitarbeiter. Die Frage ist doch, ob man auf Dauer Hunderttausende zu Beiträgen in Umlagesysteme verpflichten kann, die ihnen keine Leistung jenseits der staatlichen Grundsicherung bieten. Diese Frage wird früher oder später auch das Bundesverfassungsgericht erreichen. Für die austherapierten Sozialsysteme geht es dabei ums Überleben.

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Geschrieben von

Verena Schmitt-Roschmann

Verena Schmitt-Roschmann ist Ressortleiterin Politik des Freitag.

Verena Schmitt-Roschmann

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