Will man Umfragen in Deutschland Glauben schenken, ist nur noch die Hälfte der Bevölkerung für die allgemeine Wehrpflicht. Was liegt also näher, als die Bürger nicht länger mit der eigenen sicherheits- und außenpolitischen Existenzsicherung zu belasten und den Verteidigungsdienst lieber zu "kaufen". Wenn Soziologen seit langem diagnostizieren, dass der Konsens in verteidigungspolitischen Fragen zunehmend verloren gegangen ist, bedarf es einer intensiven öffentlichen Debatte über die Wehrform und die Ausgestaltung des Wehrdienstes.
Bis 1989/1990 konzentrierte sich für uns Landes- und Bündnisverteidigung an der innerdeutschen Grenze auf die Abwehr einer potenziellen Aggression des Warschauer Paktes. Erinnern wir uns an diese exponierte Lage und denken bei der heutigen Debatte um die Wehrpflicht daran, dass unsere Verbündeten damals mit Streitkräften bei uns waren, die größtenteils aus Wehrpflichtigen bestanden, unter Inkaufnahme hoher finanzieller Belastungen. Heute sind wir dank dieser gemeinsamen Anstrengungen nicht mehr unmittelbar bedroht. Die Osterweiterung der NATO hat dazu geführt, dass es für uns den gefährlichen, unmittelbaren Kontakt mit denkbaren Gegnern nicht mehr gibt. Wir sind - wie immer wieder gesagt wird - von "Freunden" umgeben. Ist das wirklich Grund genug, unsere sicherheitspolitische Vorsorge auf die leichte Schulter zu nehmen?
Für die meisten unserer NATO-Partner galt schon immer, dass sie von "Freunden umgeben" waren. Sie ließen sich dadurch jedoch niemals dazu verführen, ihre Sicherheitsvorsorge zu reduzieren und sich nur auf andere Bündnispartner zu verlassen. Denn sie verfolgten überlegt ihre sicherheitspolitischen Interessen im NATO-Bündnis. Und sie wussten, dass sie sich im NATO-Vertrag verpflichtet hatten, im Falle von Krisen und Kriegen mit ihren Streitkräften für uns einzustehen.
Gleiches gilt heute für uns Deutsche. Denn die NATO-Ostgrenze ist durch die Verlegung nicht sicherer geworden. Vielleicht ist der GAU des Kalten Krieges heute unwahrscheinlich. Aber eben nur vielleicht! Wer verzichtet schon auf seine Krankenversicherung nur weil das Ergebnis des letzten medizinischen Check-ups vorzügliche Gesundheit bescheinigt.
Außerdem birgt die NATO-Grenze gerade in der Türkei die ganze Skala der Risiken, die unmittelbar zu großen Krisen führen können: religiöser Fundamentalismus, Wasserknappheit, Armutsmigration sowie iranisch/irakische Machtprojektion. Hier sind wir nun verpflichtet, wenn es darauf ankommt, Bündnissolidarität zu beweisen, die wir solange von Partnern in Anspruch genommen haben. Insofern hat sich zwar unsere Lage, aber nicht unsere NATO-Verpflichtung geändert. Im Gegenteil: Als zentrale Landmacht in Europa sind wir - anders als die Staaten in Randlagen wie Frankreich und England - aufgerufen, einen substanziellen Stabilitätsbeitrag im Zentrum Europas zu leisten und damit auch die in der Charta von Paris kooperativ vereinbarte Friedensordnung in Europa militärisch abzusichern.
Dafür ist die Fähigkeit zur Landes- und Bündnisverteidigung die entscheidende Vorraussetzung und ein entscheidender Bezugsrahmen für den Erhalt einer gewalthemmenden Balance in Europa. Niemand kann Beistand von einem Land erhoffen, das nicht dazu in der Lage ist, sich selbst zu schützen. Ein Verzicht auf die Wehrpflicht ließe den nötigen Umfang nicht zu und beraubte Deutschland des entscheidenden Instrumentes zur Beherrschung größerer Krisen in Europa.
Ein ausreichender, das heißt der Rolle und der geopolitischen Lage der Bundesrepublik Deutschland angemessener Streitkräfteumfang kann nur mit der Wehrpflicht erhalten werden. Eine Vernachlässigung der Aufwuchsfähigkeit würde das Verlustrisiko erhöhen und das europäische Gleichgewicht mit unabwendbaren Folgen für die gesamteuropäische Sicherheit gefährden. Dies macht deutlich, warum wir aus außen- wie sicherheitspolitischen Gründen an der Wehrpflicht in Deutschland festhalten müssen. Hierbei sollten wir uns am Beispiel der nordischen Staaten, aber auch der Schweiz, orientieren, die fast immer von Freunden umgeben waren, aber sehr wohl wussten, dass die Fähigkeit zum Selbstschutz der wichtigste Pfeiler der Souveränität ist.
Sicherheitspolitische Vorurteile und militärische Modetrends anderer NATO-Partner, die sich auf Interventionsstreitkräfte konzentrieren, sind daher für uns Deutsche schlechte Ratgeber bei anstehenden Entscheidungen. Dies gilt gerade auch deshalb, weil es um vitale sicherheitspolitische Interessen geht, die ganz wesentlich das deutsche, politische Gewicht in der internationalen Politik beeinflussen. Insofern bleibt für mich die Wehrpflicht die notwendige sicherheitspolitische Lebensversicherung für unser Land.
Unsere Autorin ist Mitglied der SPD-Bundestagsfraktion.
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