Glückwünsche an Preisgewinnerin Golineh Atai

Ukraine-Berichte Ein offener Brief an Frau Golineh Atai (@tagesschau.de) anlässlich der bei Phoenix am 26. Okt. 2014 ausgestrahlten Diskussion: Der Ukraine-Konflikt in den Medien.

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Ihre Freitag-Redaktion

Hallo, Frau Golineh Atai.

Erst einmal herzlichen Glückwunsch zum Preis.

Zu: Der Ukraine-Konflikt in den Medien - Diskussion zum Friedrichs-Preis

Ich habe gestern Abend die Diskussion anlässlich der Hanns-Joachim-Friedrichs-Preis-Verleihung auf Phoenix gesehen und kann Ihnen versichern, dass jeder Ukraine-Beitrag, den ich von Ihnen im Fernsehen gesehen habe, mir den Eindruck gab, dass Sie, was Ihre Einstellung zur Ukraine angeht, in allen Berichten reinen Herzens gesprochen und berichtet haben. Die Tagesschau sendet auch für Menschen, die sich wenig für Politik, gar für Außenpolitik, interessieren und jeder Ihrer Berichte, den ich gesehen habe, musste und konnte auch diesen Menschen vermitteln, wie die Sympathien in dem ukrainischen Streit bei guten Europäern verteilt sein sollten. Diese Menschen verstehen teils nicht, was für ein gewaltiger Schritt die Ukraine-Nahme für die Nato ist. Die kann nun militärtechnisch gesehen praktisch in Moskaus Vorgarten spucken. Die weniger politisch interessierten Tagesschau-Gucker konnten sich durch jeden Ihrer Beiträge zumindest emotional orientieren und erfuhren, dass Putin in dieser Causa nicht Europas Freund sein kann und ebenso wenig die pro-russischen Ukrainer, die nach dem Februar-Regierungswechsel und die folgende starke Hinwendung ihres Landes zu Europa überrascht und geschockt waren. Der Preis ist schon alleine durch Ihr Engagement für diese Zuschauerschicht höchst gerechtfertigt.

In der Diskussion viel mir auf, dass alle in der Runde und auch im Publikum erfreut waren über die der EU zuneigenden Ukrainer und die Berichterstattung darüber und dass jeder, der sprach, eine starke innere Bereitschaft ausstrahlte, das Willkommen für diese Menschen zu zelebrieren und zum Gelingen der nicht unschwierigen Mission – der Abtrennung und Abnabelung der Ukraine von Russland, die bereits schon einmal nach der Orangen Revolution versucht wurde und fehlschlug – beizutragen. Alle außer Herrn Siebertz vom Programmbeirat und des Wissenschaftlers Herrn Weiß. Jeder Satz, der von den Journalisten in der Runde geäußert wurde, strahlte unmissverständlich und glaubhaft aus, dass es gut ist, wie die Medien die Ukraine-Assoziation bisher gehandhabt haben. Es war gut, dass keine Spalter wie Herr Pleitgen oder Frau Krone-Schmalz geladen waren, schließlich galt es, die Preisverleihung zu feiern und nicht die überkommenen Annäherungsphrasen von vorgestern oder die vorgeblichen politischen Versäumnisse – die keine sind, denn sonst wäre die Ukraine heute nicht im Abspaltungskrieg gegen Russland. Noch ist nicht alles gelungen, und es braucht noch keine Diskussion, ob diese kommenden Neu-EUler Deutschland zur Last fallen könnten. In vielen dieser kritischen Internetbeiträgen wird ausführlich, höchst egoistisch und uneuropäisch diese Karte gespielt und auf Griechenland, Rumänien, Ungarn und andere verwiesen.

Ich denke, ich kann auch Ihre Sorge mildern, dass diese Internetkritiker tatsächlich organisiert sind oder gar von Russland gesteuert. Die Forumsbeiträge, die ich gelesen habe, sind offensichtlich zumeist von Menschen, die wie der Wissenschaftler in der Runde nicht erkennen können, dass zum Gelingen historischer Veränderungen viele beitragen müssen und dann erst hinterher die Zeit kommen mag, noch mal alle Vorkommnisse/Berichte anzuschauen und neutral zu bewerten, wer wann wo welche Interessen verfolgte, Allianzen/Intrigen schmiedete oder der Sache dienende Flunkergeschichten (Internetbehauptung!) erzählt hat. Obwohl auch ich fand, dass die Medien einige der Berichte, die von der Kiewer Regierung kamen, vorab kritischer hätten bewerten sollen, da diese Darstellungen häufig ein allzu perfektes Futter für die Internet-Trolle waren.

Der Herr vom Programmbeirat wiederum scheint mir einer Generation anzugehören, der Völkerverständigung und Friedensarbeit bzw. deutscher Nichtmilitarismus jahrzehntelang als oberste Maximen vorzelebriert und eingehämmert wurden und nun so tief unter der Haut sitzen, dass die Indoktrinierten heute nicht mehr anders können. Sie sind von der eher emotional und mit reinem Herzen, scharfem Blick und vorbei an hinderlichen Rücksichtnahmen für die europäische Sache Arbeitenden irritiert. Auch wenn der Programmrat das in der Sendung eher durch Nichtakzeptanz und Abwehr der durch die Journalistensicht vorgetragenen modernen europäischen/transatlantischen Sichtweisen nur höchst unvollkommen demonstrieren konnte, kann er als gültiger Prototyp eines weiteren Charaktertyps der Internetkritiker dienen, die, wenn sie ein bisschen Zeit an der Tastatur haben, durchaus gut formulieren können. Womöglich können sie in ihrem fortgeschrittenen Alter nicht mehr erkennen, dass man vor Russland heute nicht mehr diesen Respekt wie damals haben muss. Heute darf man in Nachrichtenbeiträgen durchaus freche, gegen Russland gerichtete Reden schwingen bis hin zur offenen Parteinahme für die Kiewer Seite. Dieser Typus will nicht akzeptieren, dass die rücksichtslos emotionale Herangehensweise für jene Zuschauer, die die geostrategischen Ziele nicht in Gänze nachvollziehen, geradezu gefordert ist. Er will nicht akzeptieren, dass Putin, der Personifikation des unerwünschten Russlands, durch die Medien wieder und wieder ein vernehmliches und entschiedenes „Nein, geh’ weg!“ entgegengeworfen werden muss. Auf Russland müssen wir keine Rücksicht mehr nehmen. Russland ist schwach, und wenn wir Gas wollen, werden wir es jederzeit bekommen (Russland piekt aber auch zurück, wie wir mit der Krim und in der Ostukraine erfahren mussten).

Aber trotzdem, das Russland-Bashing fällt leicht. Denn Russland ist nach wie vor kein menschenrechtsfreundliches Land. Denn Russland ist trotz Putins deutlich festerer Hand immer noch von Oligarchen bestimmt und betrieben (wenngleich dieser Umstand im Zusammenhang mit Ukrainethemen nicht unbedingt überbetont werden sollte). Ebenso wendet Russland sehr ungelenke Praktiken an, um seine Journalisten zu gängeln. Ich mache jede Wette, er erblasst jedes Mal vor Neid, wenn er sieht, wie es im Westen mit Leichtigkeit gelingt, die Leitmedien mit gesellschaftlicher und privatwirtschaftlicher Softpower (individuelle Karriere) auf einheitliche Richtung zu bringen. Nur zwei große Beispiele: 1) Die SPD-2010-Agenda ist zu weiten Teilen ein Erfolg der Leitmedien. Ganz vorne dran Frau Christiansen. Noch heute, nachdem die Auswirkungen überall sichtbar werden, schaffen es die vereinzelten Gegenstimmen nicht, weit über ihre Blog-Grenzen hinaus Gehör zu finden. 2) Der Afghanistan-Krieg wurde 10 Jahre lang als humanitärer Einsatz geführt. Erst als ein extrem begabter Publicity-Künstler Verteidigungsminister wurde und seine Agenda ins Werk setzte, mussten die Leitmedien einschwenken.

Sie sind Profi. Vermutlich wissen Sie selbst, dass es diese Verschwörung gegen die sich pro-europäisch/amerikanisch gebenden Leitmedien im Internet gar nicht gibt. Sie wissen, welche Signale sie dem Gegenüber senden können und welche Täuschungen sie glaubhaft darstellen können. Ich halte es beispielsweise für ein Leichtes zu erkennen, welche der kurdenfeindlkichen Kommentare unter Kobane-Artikeln im Internet von z. B. Deutschen mit türkischem Familienhintergrund stammen. Diese Unversöhnlichkeit ist unverkennbar. Es gibt hin und wieder auch Versuche involvierter Kurden, die häufig aber zu emotional sind, um Deutschen oder diesen Türkischstämmigen gegenüber als smarte Disputanten auftreten zu können. Nur die fest im Wertekoordinatensystem der Menschen verankerten Leitmedien können es schaffen, dass die Prioritäten der Politik in Syrien, Libyen, Irak, Ukraine und anderswo in das Weltbild der Bevölkerung übertragen werden. Darum: Für Russen wäre es schlicht aus kulturellen Gründen nicht möglich, unerkannt in derart provokativer Art gegenüber dem Kurs sämtlicher Leitmedien in Deutschland aufzutreten. Natürlich sind das Deutsche, die entweder aus purer Lust an der Kritik des Mainstreams oder wegen überalterter (nur teils altlinker) Völkerverständigungs-Idealen oder aus völlig deplazierter akademischer Seriosität – wie auch der Wissenschaftler in der Runde – gegen-propagandistisch tätig sind. Sehr vereinzelt gibt es sicher auch diese sehr gut informierten Insider, die die Anonymität des Internet nutzen, um einzelnen Journalistenkollegen eins auszuwischen.

Meine Vermutung geht, wie schon angedeutet, sowieso eher in die Richtung, dass die Medienprofis das natürlich schon lange wissen und die Geschichte der organisierten Trollerei oder gar der Russlandsteuerung nur für jene erzählt wird, die sich wundern, dass unter den Ukraine-Texten teils so widersprüchliche Forum-Kommentare auftauchen.

Ich fand trotz allem gut, dass auch der Wissenschaftler da war, denn wie Herr Frey ihn zum Ende der Sendung, als er zum Rundumschlag ansetzen wollte, abfing und einsackte, war meisterhaft. Der Professor ist eben seinen Hörsaal gewohnt. Das echte Leben ist anders und Revolution sowieso. Ich bedauere ein wenig, dass ich nur etwa die letzte halbe Stunde gesehen habe, diese Meisterübung Herrn Freys und die flugs anlaufende Assistenz der übrigen Journalisten, die den Wissenschaftler instantan neutralisierten, hat mir Lust auf mehr gemacht. Ich werde vermutlich bei Gelegenheit mal die Phoenix-Mediathek aufsuchen.

Überhaupt, fand ich während der ganzen EuroMaidan-Berichterstattung und der Zeit nach dem Regierungssturz, dass eigentlich alle Journalisten unserer Leitmedien ihr Herz immer an der richtigen Stelle hatten, und erkannten, wann sie den Zuschauer/Leser emotional packen konnten. Das waren teilweise Gefühle wie beim Mauerfall oder der nächtlichen Bombardierung Bagdads im grünen Schein der (vergeblichen) Flugabwehrkanonen in 2003. Mit Chemical Ali – war das ein Spaß. OK, die letzten Kapitel des Afghanistan- und Irak-Einsatzes sind noch nicht geschrieben, aber Geschichte hat immer die Eigenart, dass sie fortschreitet, darum finde ich es berechtigt und wichtig, dass immer mehr Stimmen laut werden, die eine Aufrüstung Deutschlands und der EU fordern.

Insgesamt haben unsere Journalisten in der Ukraine wieder einmal bewiesen, dass sie es können. Mir persönlich haben auch verschiedene Auftritte anderer wichtiger Journalisten gut gefallen, wie Herr und Frau Eichendorf (emotional in Talkshows und von der Front), Herr Lielischkis (emotional von der Front, obwohl die hüpfenden Barbäuchigen zwiespältig waren), Frau Miosga (aus dem Studio mit emotionalen Einordnungen), Herr Reitschuster, Kornelius und Donath (emotional in Talkshows) und neben vielen weiteren natürlich ein besonderer Leuchtpunkt Herr Kleber, der den Vorständen und Verantwortlichen der deutschen Wirtschaft mit dem Interview des Herrn Kaeser von Siemens unmissverständlich deutlich gemacht hat, dass die Ukraine-Krise kein Spaß ist, den die Wirtschaft an sich vorbeistreichen lassen kann, ohne zum Gelingen der Unternehmung beizutragen. Es dauerte nur wenige Tage, und es wurde deutlich, dass auch dieser Teil der deutschen Gestaltungselite verstanden hatte und die Kooperationssignale medial verbreitet werden konnten.

Das war für mich ein Beweis, dass die häufig angemahnten Aufgaben der vierten Macht im Staate durchaus erledigt werden, wenn es notwendig ist – auch wenn es diesmal etwas polterte.

Ich fand es ein klein wenig irritierend und unnötig, aber auch menschlich, als Sie, Frau Atai, in journalistische Theaterpose verfielen und aufzählten, wen in der Ukraine Sie noch gesprochen haben und wo sie überall waren. Ich vermute, dieser Einwurf war für das journalistische Fachpublikum, denn in der Realität, liefen all diese Filmbeiträge natürlich durch einen längeren TV-Produktionsprozess, bei dem weitere gute, europäisch denkende und fühlende Fachkräfte ihren Entscheidungsanteil beisteuerten, und am Ende wurde von den Beiträgen im Fernsehen das gezeigt, was der EU-Assoziation nützt oder gar nichts. Mir fiel einzig ein Odessa-Beitrag auf, bei dem Sie nach meiner Erinnerung (aber aus der Ferne) berichteten und das Hörensagen gut entschärft und doch sympathisch aufgewühlt rüberbrachten.

Was den TV-Produktionsprozess angeht, lieferte vielleicht das Interview mit Herrn Neef das passendste Beispiel, auch weil es im Internet bei den Verschwöhrungstheoretikern für besonders rege Aktivität sorgte. Bei dem Video soll Herr Neef gesagt haben – ich habe das Original nicht im Netz gesucht –, dass er den Eindruck habe, einige Ostukrainer wollten gar nicht vom ukrainischen Militär befreit werden. Das wurde in der TV-Version nicht gesendet: Zum einen kann die Tagesschau natürlich nicht minutenlang Neef-Interviews senden, es muss also geschnitten werden. Zum anderen kann Herr Neef unter (Wodka?-)Einfluss gestanden haben. Das und vieles mehr gilt es zu bedenken, bevor ein Interview oder Teile davon gesendet werden können. Vermutlich war das mit vielen Ihrer Beiträge ebenso. Auch die Menschen in der TV-Produktionskette wollen von der Ukraine nur die besten Eindrücke vermitteln. Es sind Fachkräfte, und sie haben Entscheidungen zu treffen, die dem Gesamtkonzept der journalistischen Richtung dienen.

Noch ist nicht Friede in der Ukraine, und es wird wohl noch zahlreiche Gelegenheiten geben, bei denen die deutschen Berichterstatter beweisen werden, dass sie ihre Aufgaben gegenüber dem Staat und der EU doch besser erledigen können als ihre russischen Pendants. Sie können es besser, weil die EU für Freiheit, Demokratie und, ja, für die Ukrainer auch für Wohlstand und erschwinglichen Konsum steht. Darum können unsere Journalisten ihr Herz sprechen lassen, wo die russischen nur Vorgaben ausführen und Richtlinien folgen. Und beide Seiten werden den Großteil der Bevölkerung mitnehmen. Denn der ist sensibel für emotionale Signale und folgt ihnen, weil nur so eine Gesellschaft funktionieren und das Individuum Harmonie und Glück empfinden kann. So ausgeflippt das klingt, aber da hat die chinesische KP – die ebenfalls sehr kritisch auf Putin schaut – einfach mal Recht.

Ich schweife ab, darum soll’s das jetzt gewesen sein.

Während ich diesen Glückwunschbrief schrieb, wurde mir bewusst, dass vielleicht auch andere Journalisten interessiert sein könnten, dass über das Internet nicht nur Beschimpfungen erzürnter Nachrichtenkonsumenten drohen, sondern auch Menschen bereit sind, die journalistischen Anstrengungen in einen größeren Kontext einzuordnen und zu würdigen. Darum plane ich ihn nun als offenen Brief und werde mal schauen, ob ich einen Blog eröffne, um ihn auch anderen zugänglich zu machen. Sie, Frau Atai, möchte ich ermutigen, ihn an Kollegen, die auch mal ein bisschen Lob vertragen können, weiterzureichen, wie Sie das für angemessen halten.

Noch einmal meinen herzlichen Glückwunsch an Sie persönlich, Frau Atai, zum Preis.

V. Wend (Red.: Name geändert)

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