Bei manchen, in öffentlichen Debatten oft gebrauchten Begriffen setzt augenblicklich der Würgereflex ein. Oft tragen die leicht zu überlesenden Wortschöpfungen eine maskierende fröhliche Grimasse und hüpfen aus den Headlines der Leitmedien elegant über die Augen direkt ins wehrlose Hirn. Während der Beschneidungsurteilsdiskussion tauchte, wie der Springkasper aus seiner Kiste, der verschämte Kampfbegriff aller Political Correctness-Gläubigen wieder auf: „Parallelgesellschaft“. Tatsächlich zeigt diese grausige Wortschöpfung ein düsteres Bild von der sogenannten Mehrheitsgesellschaft auf, wo sich doch die nach ihrem Selbstverständnis tolerante Masse mit derlei Schlagworten von den angeblich parallel Lebenden absetzt und nicht umgekehrt. Selbstzufrieden gruselt es dieser schlecht definierbaren Mehrheit bei der Konfrontation mit anderen Lebensentwürfen und sie bemerken in ihrer vehement verleugneten Furcht nicht, dass wir bei genauerer Betrachtung alle in einer Parallelgesellschaft leben, weil wir gar nicht anders können! In meinen vielfältigen Freundeskreis ist dieser Umstand gut zu beobachten.
Der Dealer
Big Jimmy zum Beispiel, lebt ganz eindeutig in einer Parallelgesellschaft. Ich lernte ihn mit achtzehn in der Disco auf der Suche nach gutem Ecstasy, als es noch gutes Ecstasy gab, kennen. Ein großäugiger Zappelphilipp verwies mich an einen zwei Meter Riesen, der wie ein lederner Kasten aussah und Unmengen Cola-Whiskey trank. Big Jimmy verkaufte sein feines Sortiment nicht einfach nur, er achtete auch darauf, dass sich im Wahn niemand daneben benahm. Es gehörte, wie er mir später vertraulich erklärte, zu seinem Service. Als ich ihn, von der schieren Körpermasse schwer beeindruckt, ansprach, gab er mir wortlos die gelben Pillen mit den Hunden darauf, nahm das Geld und als ich gehen wollte, hielt er mich mit seinem Schraubstockgriff fest, sah mir tief in die Augen, um ohne zu blinzeln zu sagen: „Mach hier bloß keinen Scheiß man!“ Jimmy steht nie vor zwölf Uhr mittags auf, er liest weder Bücher noch Zeitungen und er besitzt keinen Fernseher. Dafür fährt er mit seinem Motorrad, einer Knucklehead Harley, Jahr für Jahr zu jedem europäischen Motörheadkonzert. Mit Jimmy über tagesaktuelle Nachrichtenereignisse zu sprechen, hat überhaupt keinen Sinn! Weil er nichts mitbekommt, weiß er darüber einfach nichts. Finanzkrise? Jimmy hat keine Ahnung. Dafür versteht er eine Menge von Drogen und kann den ganzen Abend ausführlich darüber sinnieren warum Harley Davidson jahrelang so verdammt schlechte Motorräder gebaut hat. Oft gebraucht er Redewendungen, Worte oder Sprachbilder, die einem Uneingeweihten vollkommen unverständlich sind. Big Jimmy ist Mitglied eines weltweit bekannten Motorradclubs, die einzigen Wahlen an denen er je teilgenommen hat sind die für einen neuen Präsi seines Charters.
Der Idealist
Fred dagegen hat keine Chance Jimmy je kennen zu lernen, denn er lebt in einer völlig anderen Parallelgesellschaft. Fred steht jeden Morgen punkt sechs Uhr auf, fährt mit einem grünen klappernden Damenfahrrad in die Bibliothek und schreibt dort den ganzen Tag über Bachelor- und Masterarbeiten für unfähige Wohlstandskinder. Wenn die Bibliothek dann schließt, zieht er bis etwa gegen zehn Uhr abends weiter ins Kino oder trinkt im Szenelokal grünen Tee. Danach fährt er auf dem Heimweg die Supermärkte ab und klaut ihnen die weggeworfenen Lebensmittel. Fred lehnt Lohnarbeit aus Prinzip ab, weil sie nicht das erfüllt, was er „den Menschen helfen“ nennt. Wie er diese Ansicht mit seinem Ghostwriterjob in Einklang bringt habe ich mich nie zu fragen getraut. Er verabscheut die Konsummentalität unserer Zeit und kauft seine Kleidung folgerichtig in Secondhand Geschäften, während er seine Bluesplatten auf Flohmärkten einsammelt. Fred geht nicht wählen, weil er der Meinung ist, das politische System dieses Landes hätte keine Zukunft und jedes Zugeständnis daran wäre Zeitverschwendung. Finanzkrise? Ja und? Fred beschäftigt sich lieber mit Blues und werkelt des Nachts, wenn er sich bluesmäßig unter gewaltigen Kopfhörern weiterbildet, an einer steampunkigen Homegrowing Anlage, in der er das beste Gras des Planeten züchtet. Vielleicht erfüllt sich irgendwann einmal sein größter Traum, die Marihuanameisterschaft in Holland zu gewinnen.
Die Überhebliche
Jimmy und Fred werden sich wohl nie begegnen, es sei denn, der eine fährt dem anderen in die Seite, was in jedem Fall schlecht für Fred wäre. Auch die Chance, dass die beiden irgendwann einmal Anna kennen lernen werden, stehen eher schlecht. Als Redakteurin beim Öffentlich-rechtlichen Rundfunk würde sie die beiden vermutlich sowieso hochmütig für unter ihrem Niveau halten. Sie hat auch kaum Zeit für soziale Kontakte, kauft und sammelt Anna doch für teures Geld, Schuhe, Klamotten und Schmuck in erschreckenden Mengen. Abends liegt sie erschöpft zwischen Einkäufen auf dem Designersofa und stopft schwarze Herrenschoklade in sich hinein. Das Privatfernsehenprogramm wurde offensichtlich für sie erfunden, denn selbst bei Scriptet Reality Dramen, wenn die Laiendarsteller affektiert leiden, weint Anna schmachtend ins teure Kissen. Als ich ihr erklärte, das sei doch alles nur erfunden und obendrein noch schlecht gespielt, sagte Anna mir, das wisse sie, sie sei schließlich Redakteurin und es sei ihr vollkommen Wurscht, sie weine nun eben manchmal gerne. Anna hält Wahlen für unnötig, sie meint, nur Leute ihres Standes sollten wählen dürfen, sie glaubt, dass Umweltbewusstsein eine Erfindung von Habenichtsen ist, wer Geld hat sei doch per se Umweltschützer, und Armut ist für Anna immer selbstverschuldet, jeder ist doch seines Glückes Schmied. Finanzkrise? Nicht bei Anna.
Anna, Fred und Jimmy leben inmitten der Mehrheitsgesellschaft aber sie wollen nicht nur nichts mit ihr zu tun haben, sondern sie ist ihnen so herzlich egal, dass sie deren Probleme nicht einmal wahrnehmen. Jimmy, Fred und Anna beteiligen sich nur marginal an der Normalität. So wie Planeten voneinander abhängig sind, sich aber nie wirklich berühren, leben sie nebeneinander her. Trotzdem, wenn ich so darüber nachdenke, erscheinen mir Parallelgesellschaften auf einmal völlig in Ordnung zu sein.
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