Die Vorhaut schlägt Wellen

Beschneidungsurteil Nächste Runde. Die Kanzlerin äußert sich zum Beschneidungsurteil. Was sie sagt ist starker Tobak.

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In Otto Waalkes legendärem Sketch steuert das überarbeitete Großhirn rigide die teilweise rebellischen Körperteile und Organe im Inneren seines Wirts. Diese Machtfülle berechtigt es der aufmüpfigen Milz zu drohen: „Noch so eine freche Bemerkung und du fliegst raus!“

Im Augenblick scheint bei einigen Meinungsführern allerdings ein anderes Körperteil handstreichartig das Regime übernommen zu haben. Der ausufernde Streit um die Beschneidungspraxis nach dem Verbot der Kölner Richter wirkt auf nachdenkliche Menschen zuweilen, wie aus der Zeit gefallen und wurde deshalb von vielen nicht sonderlich ernst genommen. Man hätte es besser wissen müssen und reibt sich verwundert die ungläubigen Augen.

Ein ordentliches Gericht, also die Vertreter der Judikative dieses Landes, Hüter der allgemein gültigen Rechtsordnung, kam nach sorgfältiger Prüfung des vorgelegten Sachverhalts zu der Erkenntnis, im vorgetragenen Fall liege eine Körperverletzung vor. Bedenkt man, dass der kleine Junge eine Person mit eigenen von der Verfassung garantierten Rechten ist und den Eltern nicht wie eine Sache über deren Zustand sie frei verfügen können gehört, dann dürfte jeder, der sich mit dem behandelten Fall beschäftigt, der richterlichen Argumentation zumindest folgen können. Musste sich das Kind nach der Beschneidung doch einer medizinischen Behandlung unterziehen, die sonst nicht notwendig geworden wäre, wenn es nicht unnötig verletzt worden wäre. Das Urteil wird noch verständlicher, wenn man sich verdeutlicht, dass ein bestimmter Prozentsatz der beschnittenen Kinder unter körperlichen wie seelischen Langzeit – oder Spätfolgen leidet und manchmal den Eingriff nicht überlebt. Die Praxis wird folgerichtig als schädlich verboten, denn das Kindswohl steht vor den religiösen Überzeugungen der Eltern, wie etwa bei religiös bedingter Ablehnung einer lebensnotwendigen Bluttransfusion auch. So weit so logisch.

Doch wieder einmal bekommen im religiösen Brauchtum Unerfahrene auf sehr drastische Weise plötzlich das Fanatisierungspotential von Glaubenrichtungen vor Augen geführt. Ein Aufschrei der betroffenen Religionsgemeinschaften geht durchs Land. Was wird da nicht alles an teilweise hanebüchenen Argumenten für die Fortsetzung der gesundheitsschädlichen Beschneidungspraxis ins Feld geführt. Von hygienischen Gründen ist die Rede und, nach dem Hinweis auf die uralte Erfindung der Seife, von religiösen Traditionen, die nur deshalb nicht angerührt werden dürften, weil sie eben Traditionen seien, gefaselt. Antisemitismus und Islamfeindlichkeit seien die wahren Triebfedern des Urteils. Man kratzt sich ratlos am Kopf, wenn die Vertreter zweier Religionen, sich sonst spinnefeind, weil beide im Besitz der einzig wahren Wahrheit, einmütig den argumentativen Schulterschluss üben. Wie schön wäre es doch, wenn die Spitzen besagter Glaubensrichtungen zu anderen wichtigen gesellschaftlichen Fragen ebenso schnell und eindeutig Stellung beziehen würden. Nach dem Sinn der Jahrtausendealten Tradition gefragt kommen die Betroffenen dann sehr schnell ins wenig überzeugende Stocken. Wirkliche Gründe, außer eben der kategorischen Ansage man habe das schon immer so gemacht, finden sich keine.

Viel alarmierender jedoch als die religiös verbrämte Stotterei der Verteidiger eines lebensgefährlichen bronzezeitlichen Ritus ist die reflexartige servile, sich vor öligem Verständnis überschlagende, Reaktion der gewählten Volksvertreter. Man würde die Gläubigen kriminalisieren, man wolle muslimisches und jüdisches Leben in Deutschland, von herzustellender Rechtssicherheit vor der Rechtssprechung ist die Rede. Die Kanzlerin erklärt gar empört man würde zur „Komikernation“. Wie bitte, ein nach den strafrechtlichen Grundsätzen unserer Rechtsordnung gefundenes Urteil beschämt uns vor der Welt?

Die Kölner Richter haben eine Frage in den Blickpunkt der Öffentlichkeit gerückt, die in unserer Gesellschaft schon länger schwärt und eitert. Wie sich Verhalten, wenn wissenschaftliche Erkenntnisse der Neuzeit mit überliefertem Brauchtum kollidieren? Kanzlerin, Bundesregierung, Opposition und ein Großteil der Intellektuellen dieses Landes haben eine eindeutige Antwort gegeben. Sie lautet: „Vorwärts Kameraden, es geht zurück!“ Kaum vorstellbar, wie wir heute leben würden, wenn diese politisch motivierte und obendrein opportunistische Haltung in früheren Zeiten konsequent weitergeführt worden wäre. Umso wichtiger, klar zu fragen: „Habt ihr noch alle Tassen im Schrank?“

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Geschrieben von

visionsbar

"Ich lasse meine Mitmenschen zur Hölle fahren, wie es ihnen beliebt!" Robert Louis Stevenson

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