Kein Syrien mehr

Bürgerkrieg Kämpfe in Aleppo. Doch wer eigentlich gegen wen kämpft, wird zusehens undurchsichtiger

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KI ist heute sehr schweigsam. Er sitzt auf der abgenutzten Holzbank unter dem Kupferstich mit einem Nordseestrand im Sturm und starrt rauchend in sein Bierglas. Dann sagt einer: „Syrien“ und alle schauen zu ihm aber er sieht weiter in sein Bierglas und meint nur leise: „Schwere Kämpfe in Aleppo!“

KI ist groß, langhaarig, tätowiert, Archäologe und verbrachte viel Zeit im Land am Euphrat. Nach den Grabungskampagnen kam er dunkelbraun gebrannt, mit ausgeblichenen Haaren und den Kopf voller verrückter Geschichten zurück. Das er überhaupt in eine, seinem eigenen Urteil nach, menschenverachtende Diktatur flog, begründete er mit einem lakonischen: „Ich habe Vorurteile!“

Seine grundlegende Meinung über das Syrien vor dem Bürgerkrieg lässt sich knapp zusammen fassen: Wie zu Hause, nur ärmer! KI ist in der DDR aufgewachsen, nicht nur die überall in Syrien zu findenden Fortschritt-Traktoren, auch die ständige geheimdienstliche Überwachung und die stets notwendigen kleinen Bestechungen erinnerten ihn an seine Jugend. Es sei wie eine Zeitreise gewesen, ein wenig heimelig, ein wenig gruselig.

Da KI und seine Archäologenfreunde in den großen Tells zwischen der türkischen Grenze und der Dschazira ausgruben, Überreste von Städten, deren Geschichte bis ins vierte Jahrtausend vor Christus reicht, blieben sie die letzte Woche meist in Aleppo. Auf einen Platz im heillos überbuchten Flieger wartend, tranken sie im legendären Hotel Baron, nach drei Monaten syrischen Al Shark, dem einzigen Bier der Welt, bei dem der Schaum in der Flasche bleibt, mit großer Freude holländisches Export, kauften Unmengen wohlriechender Seife und beutelweise exotische Gewürze im schönsten Suq Arabiens, um sich später im nebelschwadigen Hamam an der alten, nie eroberten Zitadelle durchkneten zu lassen.

KI sieht uns traurig an und erzählt von seinem ersten Syrieneinsatz. In Aleppo durchstreifte er die Strassen und traf überall freundliche Leute, denn die einzigen Ausländer, welche nicht privilegierte Syrer sonst zu Gesicht bekamen, waren Mitglieder von Christlichen- oder Studiososreisegruppen, Durchschnittsalter: 70 Jahre. Der große blonde Archäologe mit den langen Haaren fiel auf wie ein Esel beim Pferderennen. Auf dem Weg zurück ins Hotel kaufte KI an einem Stand frisch gepressten Obstsaft. Er trank die Flasche halbleer und ließ sie einige Tage in der Sonne auf der Fensterbank stehen. Als er den Rest wegkippen wollte explodierte ihm die Flasche in der Hand und KI, von oben bis unten mit rotem vergorenen stinkenden Saft besudelt, lachte zwei Stunden über die eigene Dummheit und den westlichen Glauben alle Lebensmittel seien voller Konservierungsstoffe. Allerdings stand er nun vor einem Problem, das Klima in der Halbwüste hatte den Klamotten nicht gut getan und seine letzte Hose konnte er jetzt vergessen. Am nächsten Tag suchte sich KI also einen Laden im christlichen Viertel aus und sagte noch bevor der mit einem beeindruckenden grauen Bart gesegnete Verkäufer den arabischen Teil des Verkaufsgesprächs beginnen konnte: „Ich bin Mitteleuropäer. Ich will eine Hose. Ich kann nicht handeln. Geben Sie mir eine gute Hose, zu einem fairen Preis!“ Der Omar Sharif nicht unähnliche Ladeninhaber wurde vor lauter Freude nicht mehr. Dem Handeln entkam KI auf diese Weise, dem obligatorischen Schwätzchen nicht. Freundlich nötigte ihn der Mann an die uralte Verkaufstheke, schickte einen Jungen Tee holen und plauderte mit KI über Gott und die Welt. Es stellte sich heraus, dass der Inhaber in der DDR studiert hatte und sogar etwas deutsch sprach. Er drückte mit großen Gesten seine Begeisterung über die Wiedervereinigung aus und flehte zu Gott, so etwas möge in Syrien nicht passieren. KI hakte erstaunt nach. Der alte Mann stellte den süßen Tee ab, nahm KI am Arm, zog ihn zum Schaufenster und zeigte, dabei mit dem Zeigefinger in die Luft stechend, die belebte Strasse hinunter,: „Drusen, Christen, Kurden, Armenier, Schiiten, Sunniten, Islamisten, Hisbollah, Jesiden, Turkmenen, sogar Juden!“ er schüttelte den Kopf das der Bart zitterte, wenn eine Revolution, wenn so etwas in Syrien passieren würde, dann würden alle übereinander herfallen! Nur die Assad-Diktatur halte dieses Land, welches eigentlich kein Land sei, weil es nie eins gewesen sei, mit Blut und Gewalt zusammen. Gäbe es eine Revolution, dann gäbe es „Kein Syrien mehr!“ flüsterte der Mann traurig.

KI trinkt sein Bier leer. Er hat gestern Bilder aus Aleppo gesehen. Als Archäologe hat er ein untrügliches Ortsgedächtnis, die Ladenstrasse, wo er die Hose kaufte, war zerstört und ausgebrannt. „Das wird keine Revolution“, sagt er aufstehend, „Das wird ein undurchschaubares Gemetzel!“

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Geschrieben von

visionsbar

"Ich lasse meine Mitmenschen zur Hölle fahren, wie es ihnen beliebt!" Robert Louis Stevenson

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