Die Natur ist verstummt

Bauchredner Jutta Webers Buch über Naturkonzepte

Was heute selbstverständlich klingt - daß Natur eine Geschichte hat - war vor gar nicht langer Zeit schlicht undenkbar. Noch die Einteilung der biologischen Arten durch Linné konnte gar nicht anders, als eine Art ursprüngliche und unveränderliche kosmische Ordnung zu unterstellen. Heutzutage ist die Rede von einer Evolution der Natur allgemein akzeptiert, wenn nicht gar als Selbstverständlichkeit gänzlich unthematisiert - Ausnahmen bestätigen die Regel.

Etwas unklarer wird der Fall schon angesichts der Rede von einer Geschichtlichkeit von Natur. Die behauptet nämlich, daß sich die je praktizierte Idee von Natur historisch ändert. Am obigen Beispiel gesprochen: Linné unterstellte eine unwandelbare Natur, es war "undenkbar", dass der Mensch vom Fisch abstammen könnte. Darwin reparierte nicht diese Biologie, etwa durch Einführung von Zwischenarten, sondern wechselte die Grundidee. Er stiftete eine andere Art von Biologie.

Nun wird man das vielleicht nicht für sehr aufregend, sondern im Gegenteil für sehr banal halten. Es ist schließlich das Geschäft der Wissenschaften, widerlegbare und damit durchaus auch grundsätzlich verbesserbare Theorien zu schaffen. Doch woran mißt sich die Verbesserung? Ihrerseits an der Natur? Dann kommt heraus, dass Darwin die angemessenere, wenn nicht gar wahrere Idee von Natur hatte als Linné, von der christlichen Schöpfungstheologie erst gar nicht zu reden. Dann ist unterstellt, dass man die Natur nur lange, gut und angemessen genug anschauen muss, um an ihr selbst überprüfen zu können, was die ihr angemessene Idee sei. Letztlich sage die Natur uns, wie wir sie angemessen zu verstehen haben.

Diese Grundidee ist uralt, wenn auch im Laufe der Zeit differenzierter und komplizierter geworden. Irgendwann hat auch die Natur den Übergang von der oralen zur Schriftkultur vollzogen; sie redete dann nicht höchstpersönlich zu den Weisen, sondern galt als in der Sprache der Mathematik geschrieben. Das verlangte eine besondere hermeneutische Anstrengung, änderte aber nichts am Grundsatz, dass ein angemessenes Verstehen sich auf die Natur selbst berufen konnte und musste. Genau diesen Grundsatz nun bestreitet die neue Rede von der Geschichtlichkeit der Natur, einer Variation der kantischen kopernikanischen Wende. Kant hatte vorgeschlagen, jenen Grundsatz zu wechseln. Wir sollten einmal ausprobieren, wie weit wir denn kommen, wenn wir nicht unsere Naturerkenntnis sich nach der Natur richten lassen, sondern die Natur nach unserer Erkenntnis von ihr.

Eigentlich ist es sonnenklar: wenn man die Geschichtlichkeit der Natur postuliert, dann gibt es Natur nicht als jenen Fixpunkt, dem sich unsere Erkenntnis vermeintlich immer näher anschmiegt. Da es aber hochgradig kontraintuitiv ist, dass "wir der Natur ihre Gesetze vorschreiben" (Kant), so gedeiht nach wie vor die Idee, dass es Orte in unserem Wissen gibt, an denen wir lediglich zu Protokoll geben, was der Fall ist. Und wieder sind die Weisen lediglich unschuldiges Sprachrohr einer natürlichen Botschaft. Von anderer Warte aus ist das "Bauchrednerei".

Das zunächst Bemerkenswerte ist, dass es diese Debatte immer noch gibt, wenn auch unter anderen Bedingungen. Diese andere historische Situation wird in dem Buch der Braunschweiger Historikerin Jutta Weber als "Zeitalter der Technoscience" charakterisiert. Sie sieht sie grundlegend geprägt durch die Praktiken zahlreicher neuerer Wissenschaften wie etwa Forschungen zur Künstlichen Intelligenz, zu Artifical Life, Robotik, Gentechnologie etcetera. Dort sei die kopernikanische Wende de facto anstandslos vollzogen, denn Natur gelte in keinem Sinne mehr als Gegebenes, sondern als produziert und selbst produzierend. Der Sache nach stimmt diese Charakterisierung mit der der Postmoderne vielfach überein, möchte aber gewisse Aufgeregtheiten, die mit diesem Namen verbunden sind, vermeiden. Der Ausgangspunkt ist als Motto gewählt: "Die Natur ist verstummt. Die Beobachter streiten sich." (Luhmann)

Und die Beobachter streiten sich vor allem darum, ob man die Natur wieder ans Reden bekommen kann oder muss. Falls die Natur nämlich von sich aus nicht mehr redet, widerspricht sie uns auch nicht mehr. Das für unsere Praktiken Fatale liegt darin, dass Natur dann lediglich Rohmaterial für uns ist. Im Prinzip könnten wir nach unserem Gusto alles mit ihr machen; in der Kantschen Wendung liegt eine Allmachtsphantasie. Im Zeitalter der "Technoscience" wird das zum Teil fröhlich begrüßt und gefeiert, womit lediglich bunt und schrill die Begleitmusik zur schlecht praktizierten Naturaneignung gespielt wird.

Zum anderen Teil aber bleibt die theoretische Aufgabe, die Bedingtheit unserer Praktiken denken zu können. Praktiken sind nicht restlos kalkulierbar. Es hilft auch nicht, das Unkalkulierbare in unser Kalkül einzubeziehen. Traditionell brauchten wir Glück, um zum Glück zu gelangen. Missverständlich heißt das Schicksal. Es sind die Beobachter, die solche "Ehrfurcht" (Goethe) vor der Natur aufbringen müssen. Auch das verlangt die Natur nicht selbst. Wir dagegen können nicht nicht mit ihr umgehen, und sei es in der Form der Hybris, also der Vermessenheit. Das zweite Motto des Buches ist nicht minder treffsicher: "Sign interpreters are ontological dirty" (Haraway). Menschliche Praktiken haben immer schon irgendeine Idee von der Natur im Gebrauch, man kann eine Ontologie nicht nicht haben. Der Positivismus-Trick besteht darin, das nicht wahrhaben zu wollen. Bauchrednerei alter Zeiten lag darin, vorzutäuschen, die Natur rede selbst zu uns. Bauchrednerei heute liegt darin, vorzutäuschen, dass das Verstummen der Natur uns nichts zu sagen hat.

Jutta Weber: Umkämpfte Bedeutungen. Naturkonzepte im Zeitalter der Technoscience. Campus, Frankfurt am Main, New York 2003, 318 S., 39,90 EUR


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