Die Lust am Kind

Basiswissen Worüber wir reden, wenn wir von Pädophilie sprechen
Ausgabe 39/2013
Die Lust am Kind

Foto: shaunl / iStock

Die „Tragik“ und „existenzielle Einsamkeit“ pädophiler Männer, von der Günter Amendt, Martin Dannecker, Gunter Schmidt und Herbert Gschwind gesprochen haben, besteht darin, dass ihr Begehren endet, wenn das Kind über das verfügt, was einen Erwachsenen ausmacht, körperlich wie seelisch. Wie die Namen Pädophilie oder Pädosexualität schon sagen, fehlt dieser Sexualform die Reziprozität, weil ihr Begehren nicht, wie zum Beispiel bei einer hetero- oder homosexuellen Beziehung, prinzipiell von beiden Beteiligten geteilt wird.

So notierte ein pädosexueller Mann zu den Filmaufnahmen seines Lieblings, als dieser seinen ersten Samenerguss hatte: „Erster Schuss, Schluss!“ Diese Lebenstragik auf die Heterosexuellen übertragen hieße: Ein Mann verliert jedes Interesse an seiner vordem heiß geliebten Frau, sobald sie das erste Mal schwanger geworden ist.

Die Pädosexualität – so sollte die alte Pädophilie genannt werden, da es tatsächlich um das bewusste sexuelle Interesse an Kindern geht – ist einseitig, weil das Kind strukturell nicht adultosexuell ist, das heißt Erwachsene sexuell begehrt; sie ist zeitlich grundsätzlich auf wenige Jahre begrenzt; sie ist wegen der unterschiedlichen Bedürfnisse, Wünsche und Möglichkeiten des Erwachsenen und des Kindes im emphatischen Sinne nicht beziehungsfähig, und sie ist insofern paradoxal, als der Pädosexuelle das begehrte Kind behandelt, als hätte es die Sexualstruktur eines Erwachsenen, obgleich er nur das unreife, unerwachsene Kind zu lieben vermag.

Als erfahrener Psychoanalytiker und Sexualforscher schrieb Wolfgang Berner in seinem Fallbericht eines Patienten mit sexueller Sucht dazu: „Viele Pädophile erleben sich in ihren sexualisierten Beziehungen den Kindern gegenüber als extrem zärtlich und fürsorglich: An-sich-Drücken, Streicheln und Betasten sind die vorrangigen erotisierten Handlungsweisen. Auch fühlen sie sich in einer verschmelzenden Weise eins mit dem Objekt ihrer Begierde und übersehen die Dominanz, die sie entfalten, und den suggestiven Druck, den sie auf die Kinder ausüben. In der Psychotherapie mit ihnen zeigt sich sehr rasch, dass das Dominanzthema – der Kontrast zwischen groß und klein, mächtig und ohnmächtig – ein wichtiger Hintergrund ihrer Erotisierung ist. Es wird dabei die Beziehung zwischen einem noch ganz abhängigen, kleinen, pflege- und lernbedürftigen Partner und einem mächtigen, in der Phantasie fürsorglich fördernden Partner erotisiert. Zumeist sehr schnell wird offensichtlich, welche Elemente aus der Mutter-Beziehung des Pädophilen in seinen erotischen Phantasien und Handlungen wiederholend ausagiert werden, ohne eine Lösung für die dahinter stehenden Aggressionskonkonflikte zu finden.“

Diesseits dieser Tragik leben pädosexuelle Männer sehr different, wie bereits angedeutet. Viele verhalten sich aus verschiedenen Gründen, darunter moralischen und religiösen, insofern abstinent, als sie vielleicht Bilder im Internet anschauen, aber nicht mit einem vorpubertären Kind leibhaftig Sexualität praktizieren. Sehr wenige wenden Gewalt im üblichen Sinn an. Andere bedürften wegen des süchtigen Verlaufs ihrer Präferenz einer Behandlung; sie wenden Tricks und Verführungen an, denen so gut wie kein Kind widerstehen kann.

So liest ein beruflich sehr erfolgreicher und in seiner Umwelt außerordentlich angesehener, verheirateter Pädosexueller den Kindern der Nachbarschaft ihre Wünsche von den Augen ab; die Eltern sind froh, die Kinder reißen sich um seine Nähe; alle sind glücklich. Nur der Mann war nicht so gut, wie es die Eltern hofften. Er stürzte die Kinder in eine Abhängigkeit, die insofern inakzeptabel war, als sie sich ihr nicht entziehen konnten. Doch auch das vermochte sein Begehren nicht zu stillen; er betäubte die Kinder, um über sie in diesem Zustand „frei“ verfügen zu können, um sie auch sexuell penetrierend zu „gebrauchen“.

Normale Pädophile

Zwischen diesen Extrempositionen bewegen sich die gewissermaßen normalen Pädosexuellen, deren Aktivitäten auch unter Fachleuten hinsichtlich des Beziehungs- und Traumatisierungsgrades umstritten sind. Während der Soziologe Rüdiger Lautmann 1994 in Die Lust am Kind nach Interviews mit 60 pädosexuellen Männern zu dem Schluss kam, dass es bei vielen von ihnen eine ungewöhnlich differenzierte, auf einen Konsens mit dem Kind gerichtete Strategie gab, sind Gunter Schmidt in Die Tragik pädophiler Männer und Martin Dannecker in Sexueller Missbrauch und Pädophilie aufgrund klinisch-therapeutischer Erfahrungen überzeugt, dass es das gar nicht geben kann. Sie sehen zwischen der Sexualität des vorpubertären Kindes und der des erwachsenen Mannes einen Abgrund. Und betonen, wie different die Erwartungen und Bedeutungen sind, die von einem Erwachsenen in eine Handlung oder eine Szene fantasiert werden, Fantasien, zu denen das Kind noch gar nicht fähig ist.

Schmidt kommt zu dem Schluss, dass sexuelle Kontakte von Erwachsenen mit Kindern für diese „auch dann, wenn sie nicht durch Gewalt oder offenen Zwang zustande kommen, ein Risiko bleibender Traumatisierung“ sind. Andererseits gibt es nach seiner Erfahrung „viele nichtkonsensuelle Sexualkontakte von Erwachsenen mit Kindern, die für das Kind nicht traumatisch sind, gleichwohl seine Selbstbestimmung verletzen.“

Die Pädosexualität sei keine lebbare Sexualform, weil sie das missachten müsse, was englische Soziologen Intimate Citizenship nennen, eine zivile, demokratische und pluralistische Gesellschaft, in der die sexuelle Praxis den Werten Gleichberechtigung und Selbstbestimmung in Achtung vor der Autonomie und Differenz des Anderen verpflichtet ist. Das aber könnten die Pädosexuellen nicht leben. Da die Pädosexuellen aber strukturell nicht anders könnten, als ein Kind zu begehren, verdienten sie nicht Verachtung, sondern Solidarität.

Trauma, ja oder nein

Dannecker bringt Überlegungen von Laplanche ins Spiel, die plausibel machen, warum ein sexuelles Ereignis einmal traumatisierend wirkt, ein andermal aber nicht. Nach dem Theorem der Nachträglichkeit schreibt sich ins Unbewusste nur das ein, was zwei Ereignisse in Beziehung setzt, die zeitlich auseinanderliegen. In aller Kürze: Trifft die reale Verführung durch einen pädosexuellen Erwachsenen auf die gewissermaßen zur existenziellen Ausstattung des Menschen gehörende „frühzeitige Verführung“ durch die Mutter, entscheidet sich, wie die Auswirkung ist. „Relativ konfliktlos zu bewältigen scheint die manifeste Sexualität nur dann zu sein, wenn durch die mit der Pubertät einhergehenden Reifeschritte die prinzipielle Möglichkeit vorhanden ist, das durch die frühe Verführung in die Sexualität eingelassene Fremde und Irritierende als einen Teil von sich selbst zu begreifen und dadurch zu integrieren“, schreibt Dannecker.

Beim Blick in die hiesige Kultur fällt auf, dass auch die Pädosexualität trotz aller Tabuisierung gleichgeschaltet wird, indem sie sich nach marktwirtschaftlicher Logik pluralisiert. So entstand bereits aus dem Pädophilen der globale Sextourist, dem von Staaten wie bitterarmen Eltern mehr oder weniger direkt gestattet wird, mit Kindern Sex zu machen. Dass nichts und niemand der Benutzung entgeht, wird dadurch wieder einmal deutlich. Diese neosexuellen Biedermänner machen außerdem einen Verdacht wahr, den Psychoanalyse und Sexualwissenschaft seit ihren Anfängen hegen: dass Biedermänner nur dann „potent“ sind, wenn sie das „Sexualobjekt“ erniedrigen und beherrschen.

Das Skandalöse an der Pädophilie aber ist, dass der Pädophile Kindern jene Zuwendung und Liebe geben will, die generell versprochen, aber kaum vermocht wird. Ihren Fetisch nehmen sie so ernst, wie es kein Fernsehapparat fertig bringt. Das jedenfalls spüren und genießen viele Kinder. Und so gibt es Pädosexuelle, die sich pädophil verhalten und weggeworfenen Kindern aus deletären familiären Verhältnissen ohne zeitliche oder gar körperreifungsbedingte Begrenzung ein sicheres Zuhause geben – ein Beispiel dafür, wie ungerecht allgemeine Verurteilungen und Beschimpfungen à la Kinderschänder und sexueller Missbrauch sind.

Volkmar Sigusch hat im Campus-Verlag eine umfassende Bilanz seines Lebenswerkes vorgelegt. Aus Sexualitäten. Eine kritische Theorie in 99 Fragmenten drucken wir hier #Pädophilie und Pädosexualität ab. Obgleich Sigusch nicht den 68ern angehörte, war er in den späten Sechzigern einer der Pioniere der wiederentstehenden deutschen Sexualwissenschaft. 1972 gründete er das gleichnamige Institut in Frankfurt/M. und etablierte die Sexualmedizin. Gegenüber der damaligen Forderung, das Pädophilie-Verbot aufzuheben, positionierte er sich stets kritisch

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