Erwin Sellering ist ein Polit-Profi. Der Ministerpräsident von Mecklenburg-Vorpommern überlegt sich, was er sagt. Wann. Zu welchem Thema und in welchem Rahmen. Sicherlich wollte er sich ins Gespräch bringen, als er am Wochenende einer Sonntagszeitung auseinandersetzte, die DDR sei nicht der "totale Unrechtsstaat" gewesen: "Ich verwahre mich dagegen, die DDR als totalen Unrechtsstaat zu verdammen, in dem es nicht das kleinste bisschen Gutes gab", hatte er gesagt - allerdings habe es keine Kontrolle durch unabhängige Gerichte gegeben. "Insofern ", so Sellering, "hat zur DDR immer auch ein Schuss Willkür und Abhängigkeit gehört." Ein Profi ist der Mann, wie erwähnt. Aber vielleicht hat er die Reaktionen, die folgen sollten, trotzdem unterschätzt.
Ein totalitäres System werde nicht dadurch besser, dass es Sozialleistungen gab, so etwa DGB-Nord-Chef Peter Deutschland, der an die Mauertoten und den Missbrauch der Gewerkschaften durch die SED erinnerte. Der SPD-Bundestagsabgeordnete Stephan Hilsberg sagte, wer wie Sellering argumentiere, komme "schnell zu den vermeintlich guten Seiten der Nazis, dem Autobahnbau oder der Arbeitsbeschaffung"; man dürfe das Wesen der NS-Diktatur nicht anders beurteilen als das der SED-Diktatur. Sonst öffne man "Scheunentore" für Rechtsextreme. Sein Parteikollege Markus Meckel warnte davor, die "fundamentalen Unterschiede zwischen Demokratie und Diktatur" zu "verwischen". Die Union der Opferverbände kommunistischer Gewaltherrschaft warf Sellering gar "Lobhymnen auf das verbrecherische DDR-Regime und dessen angebliche Errungenschaften" vor, was eine "Beleidigung der vielfältigen Opfer des Stasi-Staates" darstelle. Verbandschef Rainer Wagner forderte eine Entschuldigung - oder den Rücktritt Sellerings. Der Schriftsteller Erich Loest ("Völkerschlachtdenkmal") sprach von einem Weichzeichnen der DDR. Sellering habe keine Ahnung, das Gesundheitssystem sei "ein Jammer" gewesen und die Kinderbetreuung habe nur auf die Arbeitskraft der Frauen gezielt. Und so weiter.
Hat Erwin Sellering all das verdient? Hat er wirklich Nazis die Tür geöffnet, Opfer verhöhnt, Täter begünstigt, die Geschichte gefälscht, die Stasi verharmlost, die Demokratie verwischt? Wohl kaum. Mit dem, was Sellering tatsächlich gesagt hat, haben die aufgeregten Kommentare nicht das Geringste zu tun. Aus ihnen spricht mal individuelle Betroffenheit, mal persönliche Verletzungen, mal Kalte-Krieger-Mentalität, mal Tabuwächtertum, mal Realitätsverlust. Und fragwürdige eigene Überzeugungen, wie im Fall von Loest. Kann er sich wirklich nicht vorstellen, dass Frauen in der DDR gern berufstätig waren - auch wenn der Staat sich das wünschte?
Wenn Reiz und Reaktion dermaßen weit auseinanderklaffen, ist das ein sicheres Zeichen für einen tief sitzenden Klärungsbedarf. Mehr als 40 Prozent der Ostdeutschen lehnen das Etikett "Unrechtsstaat" nach neuen Umfragen ab. Nur eine kleine Minderheit stimmt der These vom Staat gewordenen Unrecht vollumfänglich zu. Das muss Gründe haben, über die man reden dürfen muss. Wenn man nicht im Stil bayerischer Bescheidwisser der Mehrheit der Ostler erklären will, wie schrecklich es eigentlich gewesen sei, ihr Leben zu leben.
Doch die dringend notwendige Verständigung über die DDR, ihr Erbe, ihre Erfahrungen, ihre Entwicklung scheint derzeit kaum möglich - schon gar nicht im Wahlkampf. Zum jetzigen Stand der "Debatte" kann man nur Wolfgang Böhmer zustimmen, dem CDU-Ministerpräsidenten von Sachsen-Anhalt: Es gibt keine Debatte. "Entweder man redet darüber sehr unsachlich und polemisch oder man ist an einem wirklichen Ergebnis interessiert", sagte Böhmer einer sächsischen Tageszeitung. Man solle erst einmal klarlegen, was unter einem Unrechtsstaat zu verstehen sei.
Einstweilen aber herrscht der Verurteilungszwang. Nicht mal die Linkspartei in Mecklenburg-Vorpommern verteidigt Sellering einhellig. Fraktionschef Wolfgang Methling spricht von einem hoffnungsvollen Anfang einer neuen Debatte. Aber Landeschef Peter Ritter warf Sellering sinngemäß vor, nach Wählerstimmen zu schielen. Und Ex-PDS-Arbeitsminister Helmut Holter, der für seine kritische Haltung zur DDR bekannt ist, sagt: Natürlich müsse man im Kopf behalten, dass Diktaturen auf Verbrechen und Unrecht gegründet seien. Bei einem Linkspartei-Mann sind solche Erkenntnisse zu begrüßen. Leute außerhalb dieser Partei aber sollten darüber nachdenken, was Wolfgang Thierse zur aktuellen Aufregung beitrug: "Es gab Alltagssolidarität, es gab ein paar ganz sympathische Regelungen in der DDR, an die sich alle erinnern und die in mancherlei Hinsicht - man denke an Bildungsfragen - sogar Vorbild für andere Länder in Europa gewesen sind."
Wer nämlich das nicht wahrhaben will und ruhigen Blutes feststellen kann, wird sie nie wirklich überwinden, unsere gute alte, böse und häßliche, untote DDR.
Kommentare 9
Schon immer und in den letzten Jahren verstärkt, gibt es in diesem Lande großes Interesse, die DDR als Spuk aufrecht zu erhalten. Niemand will eine wirkliche Aufarbeitung, sondern immer nur eine Aufarbeitung in den Grenzen der von den Definitionsmacht gezogenen Verabscheuungslinie. Und immer nur im Gewand von Enthüllung, empörtem Aufschrei und entsprechendem Abscheu.
Er wird dringend gebraucht, dieser DDR-Ersatzspuk. Das ist der Joker bei vielen Auseinandersetzungen der Gegenwart. Statt früher „Geh’ doch rüber“ zu fordern, kann man heute rhetorisch anfragen „Sie wollen wohl die DDR wiederhaben?“. Und deshalb muss man andauernd eine DDR definieren, über die – außer im Tone von Abscheu und Empörung – nicht mehr geredet werden darf. Alles Bemühen in den letzten Jahren ist auf das Ziel gerichtet, die DDR weiter mit Stasi und den sattsam bekannten Unterdrückungsmechanismen zu verknüpfen. Das kriegt man hin, in dem man finanzielle Mittel entsprechend verteilt, die politisch gewollten Aussagen honoriert. Na und so weiter.
Und, indem man sich – wie Hubertus Knabe – auf die Seite der Opfer schleicht. Behauptet, in deren Namen zu handeln. Das lenkt ab vom eigenen brennenden Ehrgeiz.
Von daher ist die ganze Aufarbeitung eine komplette Posse geworden und dies nicht nur im Wahlkampf. Sie ist ein Instrument zur Deckelung von Leuten, die sich anmaßen, die Gegenwart kritisch zu sehen.
Magda
Um eine fruchtbare Diskussion über die DDR anzukurbeln, sollte man eine klare Unterscheidung zwischen dem DDR Alltag und dem eigentlichen Unrechtssystem vollziehen.
Zu meinem Alltag in der DDR habe ich Erinnerungen, die zwar nicht immer klar und deutlich hervortreten, aber durchaus mit Gefühlen daherkommen. So kann ich mir meine eigene DDR Geschichte zusammenschustern und eine persönliche Meinung vertreten, die jedoch nicht zu einer allgemein gültigen Aussage über die DDR taugt.
Um dies anhand des Zitats von Thierse zu konkretisieren möchte ich einige Beispiel anfügen. Alltagssolidarität gestaltete sich in unsere Familie darin, dass viele Bekannte aus der Nachbarschaft unser Telefon benutzten konnten oder meine Eltern anvertraute Fluchtpläne für sich behielten.
Ein paar ganz sympathische Regelungen in der DDR waren definitiv die achtwöchigen Sommerferien mit sozialistischer Freizeitbespassung und die Tatsache, dass wir in einem riesigen Haus wohnten, für die der Besitzer in Westberlin mickrige 120 Mark Miete bekam.
In Sachen Bildung danke ich besonders dem Staatsbürgerkundelehrer, der es ermöglichte eine Eins durch straightes Auswendiglernen zu bekommen.
Seine absurden Ausführungen, die er uns diktierte waren wie Gedichte, die man in Leistungskontrollen eins zu eins niederschrieb. Denn wir waren nicht dumm und ersparten uns jede Menge Ärger und Frust. Genauso verfuhr ich mit den Geschichtsfälschungen, die in den Lehrbüchern verbreitet wurden. Nicht Denken, sondern Wiederkäuen.
Ich konnte Lesen, Schreiben, Rechnen, russische Briefe an unbekannte Saschas verfassen und gebetsmühlenartig die Heimat bejubeln. Aber ich erhielt nie die Möglichkeit mir eine wirklich eigene Meinung zu bilden. Wenn das als Vorbild angesehen wurde, dann mag ich gar nicht wissen, wie schlimm es in anderen Ländern Europas um die Bildung bestellt war.
Um es abschliessend noch einmal zu unterstreichen. Das System DDR war meines Erachtens böse, weil es eine Willkür an den Tag legte, die ich nie mehr erleben will. Da nutzt auch der Verweis auf kostenlose Kindergartenplätze für alle nichts. Im Alltag jedoch lernte ich bewundernswerte Menschen kennen, die der Gleichschaltung auf unterschiedlicher Weise trotzten.
Sei es der Schulfreund, der seine Glückwünsche an die Sowjetarmee auf Klopapier kritzelte und sich damit einen Spießrutenlauf einhandelte oder mein Cousin, der auf eine internationale Sportkarriere verzichtete, weil er nicht in die SED eintreten wollte.
Das alles ist kein Spuk, sondern meine Errinnerungen.
Eine Leipziger Lyrikerin, geboren Ende der 70er Jahre, sagte neulich bei einer Lesung, dass sie 1. nichts (mehr) hören wolle von der Ost-West-Herkunftsunterscheidung und 2. im Zug jemanden kennengelernt habe, der nach wenigen Minuten fragte, ob sie aus dem Osten sei. Woran er es gemerkt habe? Weil sie alles hinterfrage!
Es sind sehr unterschiedliche Wahrheiten, die gleichbeachtet nebeneinander stehen sollten. Zum einen sind es die Verseumnisse, Deformationen, das Unrecht in der und druch die DDR. Zum anderen resultieren aus dem Alltag in jenem Land soziale, emotionale, intellektuelle Fähigkeiten, Ansprüche und Wünsche, die den Begriff vom "gelernten DDR-Bürger" begründen.
Jedenfalls:
Die Generation, die heute Ost-Fähigkeiten mit West-Möglichkeiten zu verbinden in der Lage ist, ist die knapp vor oder nach dem Mauerfall im Osten geborene.
Ich möchte keinesfalls individuelle Erfahrungen relativieren. Aber eine Tatsache bleibt, dass die DDR ein Bildungssystem hatte, in dem sich "Dummheit" nicht vererbte, so wie es jetzt ist.
Ich habe auch nicht so sehr den Eindruck, dass unser jetziges Schulsystem zum Ausbilden eigener Meinungen führt. Je länger 1989 her ist, desto weniger. Ein Zusammenhang?
Ich möchte keinesfalls individuelle Erfahrungen relativieren. Aber eine Tatsache bleibt, dass die DDR ein Bildungssystem hatte, in dem sich "Dummheit" nicht vererbte, so wie es jetzt ist.
Ich habe auch nicht so sehr den Eindruck, dass unser jetziges Schulsystem zum Ausbilden eigener Meinungen führt. Je länger 1989 her ist, desto weniger. Ein Zusammenhang?
Nicht böse gemeint - aber vielleicht hat er auch einfach an der Sprachfärbung gehört, dass sie aus dem Osten - hier: Sachsen - stammte :-)
Ein Land ist das, was die Menschen einander sind.
Sind sie einander Scherge und Spitzel gewesen? Zum Teil.
Haben sie sich umeinander gekümmert? Auch, mehr vielleicht als heute.
Wenn man ganz einfach fragt, setzt sich ein wirkliches Bild vom Land zusammen.
Man darf nur keine Propaganda hereinlassen.
Am Ende will ich das Land, wie es war, auf keinen Fall zurück. Aber erst recht nicht das, was nun so gemalt wird.
www.hna.de/schwalmstadtstart/00_20090326165253_Stasi_Opfer_So_war_es_in_der_DDR.html Das ist ein interessanter Link: Ein Stasi-Opfer berichtet über das, was ihm widerfahren ist. So weit so berechtigt. Aber dann: kommt die Nutzandwendung: "In einer Diskussion soll der Frage nachgegangen werden, inwieweit DDR-Sentimentalitäten, linksextreme Bestrebungen und der Populismus alter Stasi-Kader ein Risiko für die Demokratie darstellen, teilt die Friedrich-Naumann-Stiftung mit. "Einigkeit und Recht und Freiheit - Gefährdet die Linke unsere Demokratie?" lautet der Veranstaltungstitel der Naumann-Stiftung. Der Eintritt zu dem Votrag ist frei. " Ich sage ja, die DDR wird dringendst noch gebraucht.
Zitat ",...dass die DDR ein Bildungssystem hatte, in dem sich "Dummheit" nicht vererbte, so wie es jetzt ist. "
Dieser Verallgemeinerung widerspreche ich. Die Möglichkeit sich zu bilden bzw. der "Dummheit" zu entfliehen gab es. Aus einfachen Arbeiterkindern wurden Ingeneure, Lehrer oder SED- Appartaschiks. Aber es fielen auch einige durch das Bildungsraster und landeten auf dem sozialistischen Abstellgleis.
Das es in der DDR ein Bildungsparadies gab halte ich daher für einen Mythos.