Wir alle nehmen genervt zur Kenntnis: In Zeiten von Corona gibt es Mangel verschiedenster Art zu bedauern. Es mangelt an Impfstoffen, PCR-Tests und Luftfiltern ebenso wie an Verstand. Und Solidarität! Regelmäßig wird der Mangel an Solidarität beklagt. Wir sollten uns vielleicht öfter mal mit den Begriffen beschäftigen, mit denen wir so um uns werfen.
Solidarität ist definiert als „Verbundenheit mit Ideen, Aktivitäten und Zielen anderer“. Als „Zusammenhalt zwischen gleichgesinnten und gleichgestellten (sic!) Individuen und Gruppen“, als „Einsatz für gemeinsame Werte“. „Solidarität heißt unbedingtes Zusammenhalten mit jemandem aufgrund gleicher Anschauungen und Ziele“. Mal ehrlich, mit breiter Solidarität hat niemand ernsthaft rechnen können, oder?
Und zwar nicht allein wegen der „Fliehkräfte unserer pluralistischen Gesellschaft“. Mit unserem modernen Individualismus hat das nur begrenzt zu tun. Solidarität funktioniert schlicht nur in sehr kleinen Einheiten, wenn überhaupt. Und das war höchstwahrscheinlich schon immer so. Die Zahl der Gleichgesinnten ist bereits in Familien oft sehr überschaubar. Spätestens, wenn es ums Erben geht, nimmt nicht selten die „Verbundenheit mit den Zielen anderer“ stark ab. In Freundeskreisen sind ähnliche Anschauungen hilfreich, aber nicht zwingend zu allen Lebensfragen, und natürlich wirken auch hier im Lauf der Zeit allerhand „Fliehkräfte“.
Jetzt sollte auf einmal das, was schon mit Familie und FreundInnen nur so lala funktioniert, auf NachbarInnen, ArbeitskollegInnen und Kinder übertragbar sein, die nicht die eigenen sind? Alberner Gedanke. Wenn wir, ohne zu beschönigen, den Eigennutz abziehen, der zwingend mit dem Einhalten von AHA-Regeln, Impfungen und Urlaub an der Ostsee statt auf den Malediven einhergeht – wie solidarisch sind die meisten von uns tatsächlich? Und wieviel mehr schauen wir vor allem darauf, dass wir möglichst unbehelligt durch diese Zeit und bald wieder ins Stadion kommen?
Was wir eigentlich gebraucht hätten und nach wie vor brauchen, ist Toleranz. Und zwar in ihrem ursprünglichen Sinn: Duldsamkeit. Mal was ertragen. Wie das geht, machen uns Kinder und Jugendliche seit zwei Jahren vor. Sie tragen täglich mehrere Stunden lang nahezu durchgehend Masken, ja, auch im Sportunterricht, auch in stressigen Prüfungssituationen. Es gibt nur wenige Berufsgruppen, die mitreden können, was das heißt. Kinder sitzen in Eiseskälte bei offenen Fenstern im Klassenzimmer und machen jede Woche mehrfach Tests. Sie treffen kaum FreundInnen, feiern ihre Geburtstage – wenn überhaupt – im kleinsten Kreis und ihre Schulabschlüsse gar nicht. Freizeiten, Präsenzunterricht, Schule und Hort als Schutzräume sowie die Geduld der Erwachsenen entfallen, Notendruck nicht. Kita mal offen, dann wieder geschlossen. Rituale und Struktur sind die Ausnahme. Häufig hingegen: Zeit totschlagen neben gestressten Eltern im Homeoffice oder – noch schlimmer – allein, weil Homeoffice für Eltern ein Luxus ist. Und jetzt bitte brav durchseuchen lassen, weil Spielplätze absperren für die Alten fein war, aber Biontech-Dosen für Kinder nicht, die brauchen die SkifahrerInnen.
Auf die Duldsamkeit der Kinder und Jugendlichen ist Verlass. Und zwar nicht allein, weil wir ihnen das Ertragen aufnötigen (Eltern wissen: Wenn Kinder im Alltag nicht mitziehen, wird es richtig schwierig). Wir wissen inzwischen, dass SchülerInnen sehr wohl für ihre Rechte eintreten und Tausende auf die Straße bringen können. Was an Freitagen geht, geht auch an anderen Tagen. Gegen die Corona-Maßnahmen regt sich jedoch kaum Protest von dieser Seite. Die Unduldsamen kommen aus einer anderen Ecke. Schwurbler sind übrigens auch sehr pluralistisch, jedoch bei ihrer Freizeitbeschäftigung höchst solidarisch untereinander. Aber diese Art Solidarität haben wir nicht gemeint, oder?
Der Gegenbegriff zur Solidarität ist Konkurrenz. Und was ist wohl das Gegenteil von Duldsamkeit sowie den weiteren Bedeutungen von Toleranz wie Großmut, Nachgiebigkeit, Verständnis, Rücksicht? Die Corona-Kinder werden in ein paar Jahren Erwachsene sein. Bis dahin werden wir es zuverlässig auch mit dem 1,5-Grad-Ziel weitgehend vermasselt haben. Wir können nur darauf hoffen, dass sie uns gegenüber weiterhin tolerant sein werden. Darauf verlassen können wir uns nicht.
Kommentare 4
Wenn Politiker und innen, die billigend in Kauf nehmen oder gar fördern, daß die Reichen immer reicher und die Armen immer Ärmer werden, von uns Solidarität einfordern, dann bekomme ich ordentliche Zweifel.
Diese Zweifel teile ich.
Danke Violetta Paprotta für den sehr wichtigen Beitrag,
... ja, zur Solidarität sind wir nicht erzogen worden. Haben wir nie gelernt. Im Gegenteil, mit Sichtblenden und "Vorrücken gefährdet" ist die Selektion ja schon bei den Kleinen angesagt. Später war dann "The winner takes it all", "Geiz is geil" und "mia san mia"! Und dann kommt noch eine Pandemie um die Ecke, derentwegen wir von jetzt an plötzlich solidarisch sein sollen? Wegen einem entsolidarisierten Gesundheitswesen und der kritischen Infrastruktur, heisst es ..., Impfen, Impfen, Impfen bis wir das alte Leben zurückgewinnen. Akzeptieren können wir diese Zustände nicht, wir müssen sie erdulden.
Wer mit mehreren Geschwistern aufwächst, hat hier den Vorteil. Über das Spielen entwickeln Kinder Kompetenzen wie Solidarität, Kommunikation und Konfliktfähigkeit. Daraus entwickelt sich Akzeptanz - die entscheidende Basis für Resilienz und Toleranz. Wer nicht über diese Privilegien verfügt und alleinerziehend ein Kind zu versorgen hat, wird bei Bedarf aufgrund der desolaten kritischen Infrastruktur keinen Therapieplatz für Psychotherapie finden. Es ist eine Schande, dass die Alten und die Kinder immer noch für die Versäumnisse der Politik, Wissenschaft und Wirtschaft herhalten müssen!
lg
Vielen Dank für den Beitrag !