Der Lärm (2) für 2013

Musik Lauter laute alte bärtige Männer, leise Leisigkeiten, Kinderfreuden und die wahren objektiven Top 20.

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Der Lärm für 2013 ist die Fortsetzung vom Lärm (1)von 2012. Die Umbenennung trägt dem Umstand Rechnung, dass kein normaler Mensch mehr Ende Januar wissen möchte, was ein ihm unbekannter Typ im Jahr davor gehört hat. Der Lärm von 2012 ist aber durchaus noch für 2013 zu gebrauchen. Es spart im übrigen auch Resourcen, wenn man ältere Musik häufiger hört und dafür neuere Musik seltener besorgt. Andererseits muss natürlich auch ältere Musik erstmal besorgt werden, bevor man sie häufiger hören kann. Ein ewiger Kreislauf.

http://userserve-ak.last.fm/serve/_/58342741/Michael+Gira+M+Gira.jpgMichael Gira, Hauptverantwortlicher der Unternehmung Swans, meinte irgendwo, er wünsche jedem nur das Beste - aber Swans auf „The Seer“ machen nicht den Anschein, als wäre das Beste gewaltfrei und mit gut gepflegten Zähnen erreichbar. Man merkt diesem, diesem 3-LP/2-CD-WERK durchaus die Jahrzehnte an, die Gira offenbar dafür benötigt hat.

„The Seer“ ist sowas wie die moderne Version von Comus, jener Folk-Band Anfang der 1970er Jahre, die auf ihrem ersten Streich „First Utterance“ mit expliziten, vermystifizierten Gewalttexten einen Gegenpol zur ja ebenfalls mythisch verbrämten Hippie-Glückseligkeit fand. Ein Blick fast schon romantischer Bösartigkeit, bis auf die Zähne bewaffneter Folk und Lärm, der Zeit hat, viel Zeit. http://shop.younggodrecords.com/media/catalog/product/cache/8/image/260x/9df78eab33525d08d6e5fb8d27136e95/s/c/screen_shot_2012-07-30_at_12.18.29_pm.jpg

Und Bass hat er, und Perkussion, und Pathos von unten, von ganz tief unten. Und auch liebliche Stimmen und kleine Chöre. Im Zentrum der Dunkelheit trägt das Böse ein freundliches Lächeln mit Zahnfarbe A6, was ungefähr derjenigen eines ungepflegten, Rotwein trinkenden, Zigarre rauchenden 101-Jährigen entspricht. Swans sollten die Bayreuther Festspiele leiten.

Von lauter Lautigkeit zu leiser Leisigkeit. Um Jakob Ullmann müsste sich das heimische Feuilleton doch eigentlich reißen: Geboren 1958 im ostdeutschen Freiberg, NVA-Militärdiensttotalverweigerer, Jobs als Heizer, Hausmeister, Anstreicher. Dann Studium der Kirchenmusik, Autor musikwissenschaftlicher Texte, mal eben zwischendurch in Philosophie promoviert, und seit 2008 Professor an der Hochschule für Musik in Basel. Wie viele interessante Geschichten mögen in dieser Vita stecken? Juckt das denn hierzulande niemanden? Ich erfuhr von Jakob Ullmann jedenfalls das erste Mal aus der letztjährigen April-Ausgabe der englischen WIRE.

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Ullmann arbeitet mit der Idee, seiner Musik jegliche Dynamik zu nehmen, die sich aus der Lautstärke speist. Er komponiert dafür mit dem Gegenteil: Der Lautschwäche.

Die auf drei CDs verteilten vier extrem leisen Stücke agieren an der Peripherie der akustischen Wahrnehmung. Sie sind nie ganz zu fassen, auch von sich selbst nicht. Mit mehr oder weniger strengen Regeln und Freiheiten, die er den professionellen Musikern auf den Weg gibt, versucht Ullmann, die eigenen Kompositionsroutinen zu umgehen. Die Mikros tasten den Sound in einiger Entfernung ab. Die Distanz zwischen Mikro und Instrument, sie bleibt ein Teil der Kompositionen. Egal wie laut man den Verstärker dreht, diese Entfernung ist nicht zu verkleinern, sie erzeugt ein feines Rauschen, in dem sich Details verlieren.http://www.edition-rz.de/Media/3/123/4/4326_tmb.jpg

Was aber hören wir? Unter Anderem Streichquartette, Flöte, Fagott, Perkussion, Kontrabass, Stimmen, Klavier. Ullmann komponiert freie Musik, die in ihrer Lautschwäche distanziert und verführerisch wirkt. Verführerisch auch deswegen, weil sie eben mehr ahnen als wissen lässt. Wahrscheinlich wird man nie ganz genau herausbekommen können, was in den Stücken im Einzelnen passiert. Man wird sich aber danach sehnen können. Und innerhalb dieses Kontinuums der Ahnungen verliert man in den langen Stücken wirklich schnell das Gefühl für den Ablauf der Zeit. „fremde zeit - addendum“, in der Tat. Für mich die originellste und unfassbarste Musik von 2012.

Ich bin dem Marimbaphon verfallen, seit Captain Beefheart den zweiten E-Gitarristen in seiner magischen Band durch ein Marimbaphonisten ersetzte. Auf „Beyond & Between“ lässt sich Daniel Higgs, der frühere Hardcore-Musiker aus dem Dischord-Umfeld, von Marc Clos begleiten, der ein ums andere Mal Higgs Sektenführergesang und seine dramatisch-spartanischen Banjoklänge mit gewählt gesetzten Perkussionsschlägen ins Mark erschüttert.

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Warum nur meine Schwäche für Daniel Higgs? Ich glaube, dahinter steckt das Bedürfnis, sich einmal im Leben um nichts mehr kümmern zu müssen, keine Entscheidungen treffen zu müssen, sondern stattdessen einfach einem durchgeknallten Priester aufzusitzen und mit Haut und Seele irgendeinen metaphysischen Quatsch zu glauben und Sektenführeranweisungen zu befolgen. Zumindest für einen kurzen Augenblick. Dann würde es mir auch schon wieder reichen. Einmal Himmel und zurück.

Der feine Humor, der mehr oder weniger freiwillig in Metal mitschwingt, ist schwer zu vermitteln. Eine Doom-Metal-Reunion-Platte nach zwei Jahrzehnten mit „Why do I scream at them? They never listen“ zu eröffnen, also mit großer „Hat ja eh keinen Zweck“-Geste, ist so ein Beispiel. Dass besagte Doom-Metaller Saint Vitus selbst kleine, durchaus feine, aber irgendwie auch nicht unbedingt unverzichtbare Interludes wie „Vertigo“ auf "Lillie: F-65“ unterbringen müssen, zeigt, wie hart die Band an sich gearbeitet hat, um sich nach zig Jahren und der zeitweiligen Abwesenheit von Sänger und Identifikationskraftmeier Scott 'Wino' Weinrich immerhin gut 30 Minuten verwertbaren Materials abzupressen. Und das mag jetzt im Zusammenhang mit Saint Vitus etwas merkwürdig klingen, aber ihnen ist dabei ein bisschen die Leichtigkeit flöten gegangen.

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Hat sich aber trotzdem gelohnt, weil die Band tatsächlich den geilen Ballast, der ihre Musik zu besten SST-Zeiten zu beschweren wusste, nicht abgeworfen hat, sondern im Gegenteil sogar noch mühsamer schultert. Wenn die Schwere ihres Doomes schon immer ihr größtes Pfund war, dann lastet jetzt, 24 Jahre nach "Mournful Cries", jedes Kilo nochmal doppelt so schwer. Die Band ist alt. Die Musik ist alt. Ich bin alt. Es passt alles prima zusammen.

Can’s „The Lost Tapes“ – ein 3-CD-Box großer Extrakt aus einem gigantischen 50stündigen Bandsalat aus vergessenen Exzess-Groovern, sorgfältig inszenierten Raumklängen, Live-Aufnahmen, Soundtracks und anderem zum Teil nachträglich zusammengefügten Klickerkram. Vielleicht nicht in jeder Sekunde eine Offenbarung, enthält aber doch eine in dieser Menge und Qualität nicht für möglich gehaltene Ergänzung des alten Can-Katalogs mit bisher ungehörter Musik.http://mute.com/wp-content/uploads/2012/03/CAN_Gessine-Petter700-560x416.jpg

Staunend lauscht der Hörer explosiven Rhythmustraktaten, die sich an einer einzigen Phrase entlang hangeln, die der frühe Sänger der Band, Malcolm Mooney, aus aktuellem Anlass auf irgendeiner Ausstellungsparty des Studiobesitzers aufschnappte und bis zum beginnnenden Wahnsinn wiederholte.

Wie sich aus solchen Banalitäten Mantras ergeben, die dann plötzlich musikalische Beziehungsgeflechte befeuern, zeigt, wie sehr der Can-Sound ein Gruppensound war, selbst wenn das Basismaterial später nochmal nachträglich bearbeitet werden sollte. Bezeichnenderweise fiel ihre Musik ab dem Moment in sich zusammen, als der technische Fortschritt den Bandmitgliedern erlaubte, beliebig viele Tonspuren für sich alleine bespielen zu können. Das zu editierenden und zu verklebende Basismaterial entstand nicht mehr im zeitgleichen Gruppenprozess, mit all seinen kleinen, essenziellen Interaktionen und Richtungsänderungen. Kurz: Man hörte sich nicht mehr zu. Ab da konnte auch Holger Czukay, der meistens für die Klebearbeiten zuständig war, offenbar kaum noch was retten. Aus dieser späten Phase hat es nur ein winziges Rinnsal brauchbaren Materials auf die Box geschafft.

Alexander Tucker wurde vor ein paar Jahren die Ehre zuteil, von den Indie-Diktatoren von "Pitchfork" mit einem Totalverriss bedacht zu werden ("Portal" von 2008 bekam 2.0 von 10.0 Punkten). Ich hätte für dieses schwindelerregende Psych-Folk-Meisterwerk eine glatte 9.3 vergeben. Tucker ist so ein psychedelischer Folker, der seine Inspiration aus allerlei Vorkommnissen bezieht, die sich am Rande des Jenseitigem abspielen. Aus dem Comic "Swamp Thing" zum Beispiel, wo sich aus pflanzlicher Materie ein lebendiger Sumpfmenschdingens erhebt.http://www.thrilljockey.com/assets/artists/12810.jpg

Auf den meist selbstgestalteten Covern seiner Platten sieht man Alexander Tucker mal im groben, alles verbindenden Linolschnitt einen Klumpen Waldboden betrachten, als würde er ihn mit einem fetten Lichtstrahl beleben, oder er portraitiert mal ein Fabelgetier. Dann wieder, auf "Third Mouth" (2012), bedient er aufs Schönste eines meiner Lieblingsgenres der Bildenden Künste - Tiere von hinten darstellen - mit einem rückwärtigen Portrait eines Hasen.http://www.thrilljockey.com/assets/covers/105489.jpg

Musikalisch hat Tucker ein beeindruckendes Händchen für die Verwebung von Loops, Moogs, Folk und auch mal fernöstlichen Skalen. Dazu kommt noch seine Stimme, die in dunklen Lagen ohne Probleme als Brian-Eno-Impersonator durchgehen könnte. Wie im Rausch musste ich mir daher im letzten Jahr so gut wie alles von seinem Gesamtwerk zulegen. Mittlerweile hat Tuckers Musik einen festen Platz in meinem ganz persönlichen Seltsam-Folk-Rock-Impro-Kanon erobert. Ich behaupte, wer ein Faible für solch dunklen Folk-Kram hat, wer sich (wie ich) immer noch vor dem Wicker Man fürchtet, der sollte sich Tuckers Musik einmal in das Abspielmedium holen.

Die Peaking Lights - hinter dessen Namen sich ein freundliches, junges Paar verbirgt, das im heimischen Studio an elektronischen Geräten und antiken Beatboxen werkelt, über die Sängerin Indra Dunis dann schön verhangen die Vorzüge der kalifornischen Sonne preist - waren im vorletzten Jahr irgendwie mehr im Bewusstsein popkultureller Betrachtungen als im Jahr darauf. Das lag vorwiegend am Hypnagogic-Hype, also jener vorwiegend elektronisch behandelten Musik, die sich alter 1920er-bis-1980er-Jahre-Ästhetiken bediente, um sie dann qua aktueller Filtersoftware mit soviel künstlicher Erinnerungspatina zu belegen, bis sie in der Zeit angelangt war, in der sie entstand - nämlich um die Jahrzehntwende der 2010er Jahre.http://www.dominorecordco.com/images/artists/peaking_lights/620_310/peakinglights_artist.jpg

Mit "Lucifer" von 2012 aber konnten dann viele Online-/Magazine nicht viel mehr anfangen. Man rang sich vielleicht eine recht freundliche Kritik ab oder verriss gleich das ganze Album (WIRE). In diversen Jahrescharts tauchten die Peaking Lights nicht mehr auf, und auch ich konnte mit "Lucifer" erst nicht so richtig warm werden. Zu zahm schien es mir, zu glückselig blubberte sein Dub vor sich hin. Dann aber hat's irgendwann gefunkt, und ich konnte die rumpelnde Melange aus Beatbox-Geklapper, Keyboard und Lobpreisungen an den jungen Sohnemann (Lucifer?) genießen wie einen Massagesessel. Kommt beonders gut, wenn man "Lucifer" ganz durchhört, falls dafür deine Aufmerksamkeitsspanne ausreicht, lieber Leser. Aber wenn du bis hier dem Text gefolgt bist, bist du eigentlich schon qualifiziert.

Zu guter Letzt die 20 meistgehörten Stücke von 2012. Quer durch die Zeiten. Keine Begründungen, nur gefühlte Strichliste:

1. Jerry Garcia & David Grisman - "Louis Collins" (von "Shady Grove", veröffentlicht 1996)

2. Jerry Garcia & David Grisman - "The Ballad of Frankie Lee and Judas Priest" ("Been All Around This World", 2004)

3. Can - "Oh Yeah" ("Tago Mago", 1971)

4. Mississippi John Hurt "Louis Collins" ("Avalon Blues: The Complete 1928 OKeh Recordings", 1996)

5. Mississippi John Hurt "Frankie" ("Avalon Blues: The Complete 1928 OKeh Recordings", 1996)

6. Annette Peacock - "I'm The One" ("I'm The One", 1972, WVÖ 2012)

7. Bill Callahan - "Jim Cain" ("Sometimes I Wish We Were An Eagle", 2009)

8. Bill Callahan - "Eid Ma Clack Shaw" ("Sometimes I Wish We Were An Eagle", 2009)

9. Alexander Tucker - "Omnibaron" ("Portal", 2008)

10. Alexander Tucker - "Sitting in a Bardo Pond" ("Third Mouth", 2012)

11. Keiji Haino, Jim O'Rourke, Oren Ambarchi - "1" ("Imikuzushi", 2012)

12. Oren Ambarchi - "Sagittarian Domain" ("Sagittarian Domain", 2012)

13. Gregg Allman - "Midnight Rider" ("Laid Back", 1973)

14. General Strike - "My Other Body" ("Danger In Paradise", 1995, WVÖ 2012)

15. Neneh Cherry & The Thing - "Cashback" ("The Cherry Thing", 2012)

16. Santana - "Stone Flower" ("Caravanserai", 1972)

17. Don Julin - "Going To California" (Mandolin lesson, youtube, 2011)

18. Ann Peebles - "One Way Street" ("I Can't Stand The Rain", 1974)

19. John Fahey - "Poor Boy" ("The Transfiguration Of Blind Joe Death", 1965, WVÖ 1986)

20. Kammerflimmer Kollektief - "Palimpsest" ("Jinx", 2007)

Anmerkungen:

Swans:

Einziger Negativpunkt: Die Halbstünder werden auf dem Triple-Vinyl lieblos zerrissen, hören einfach auf und werden auf der nächsten Seite fortgesetzt. Das nimmt ihnen einiges an Wucht. Zwar ist ein Download-Code beigefügt, aber trotzdem ärgert mich so ein unsensibles Vorgehen ziemlich

Jakob Ullmann:

Die 3-CD-Box (die bald eine zusätzliche CD bekommt) ist über edition-rz zu beziehen. Sie kostet 30 Euro plus Porto. Einfach E-mail an edition-rz schicken. Man kommt mit netten Menschen in Kontakt, die sich ehrlich freuen, wenn man ihre vollkommen unverkäufliche Musik bei ihnen bestellt. Und manchmal legen sie sogar noch ungefragt ein kleines Geschenk bei... Alternativ kann die Box auch über A-Musik, Köln, bezogen werden.

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Geschrieben von

wahr

spex 03 - 06 | zu-zeiten.de 07 - 12 | banjo seit 09 | laermpolitik.de seit 12 | mandoline seit 12 | radiostoneFM.de seit 19

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