Gleich werden ohne Gleichheit

USA Schwarze sind im Durchschnitt ärmer als Weiße. Aber diese Armut lässt sich nicht durch Betonung von Ethnie oder Hautfarbe abbauen
Ausgabe 36/2021

Nach dem unerträglichen Anblick George Floyds und anderer, die um ihr Leben flehten, ist der Antirassismus fundamentaler geworden. Er ist ein „militanter Ausdruck eines Liberalismus der Hautfarben“, wie Cedric Johnson es ausdrückt, eines Liberalismus, der „nicht als Bedrohung, sondern als Bollwerk“ der amerikanischen Version des Neoliberalismus fungiert. Warum? Weil er die zunehmende Ungleichheit, die der Bevölkerung zugemutet wird, verteidigt, anstatt sie zu bekämpfen.

Dies bleibt auch dann wahr, wenn, wie der Schriftsteller Ta-Nehisi Coates sagt, „keine Statistik das fortdauernde Erbe der schändlichen Geschichte unseres Landes, das Schwarze wie Unterbürger, Unteramerikaner und Untermenschen behandelte, besser vor Augen führt als das Wohlstandsgefälle“. Coates meint diese Statistik: Im Jahr 2019 betrug das durchschnittliche Vermögen weißer Familien 983.400 Dollar, das schwarzer Familien 142.000 Dollar. Und obschon es viele Meinungen darüber gibt, wie man diese Kluft verringern könnte, herrscht Einmütigkeit darüber, was sie verursacht hat, nämlich über zweihundert Jahre Sklaverei und weitere hundert Jahre Rassismus. Diese Tatsachen haben die weitverbreitete Ansicht befördert, dass Sklaverei und Rassismus die „Erbsünde“ der USA seien, und ebenso die Behauptung, die Vorherrschaft der Weißen sei das größte der Probleme.

Wenn wir uns fragen, wer den weißen Reichtum tatsächlich besitzt, wird sogleich klar, wie irreführend die Vorstellung weißen Reichtums ist. Denn die reichsten 20 Prozent der Weißen besitzen mehr als 85 Prozent dieses Reichtums und die mittleren 50 Prozent den Rest, während die unteren 30 Prozent gar nichts haben. Das heißt, nahezu alle Weißen verfügen über so gut wie keinen weißen Reichtum. Wenn man diesen Menschen erzählt, die Hauptursache der Ungleichheit in den USA sei die Vorherrschaft der Weißen, wissen sie, dass das nicht stimmt. Ebenso gut könnte man auf die zweitgrößte Gruppe reicher Leute verweisen – die Asiaten, die genauso wie die Weißen unter den Reichen über- und unter den Armen unterrepräsentiert sind – und behaupten, die Vorherrschaft der Asiaten sei das Problem. Fragen Sie mal einen armen Asiaten: Es stimmt nicht.

Die grundlegende ökonomische Ungleichheit in den USA besteht nicht zwischen Weißen und Schwarzen, sondern zwischen einer relativ kleinen Anzahl reicher (hauptsächlich weißer) Leute und allen anderen: Schwarzen, Weißen, Asiaten. Die Lage ist also gar nicht so verschieden von der in Deutschland, wo die reichsten zehn Prozent der Bevölkerung über etwa 66 Prozent des Nettovermögens verfügen. Und wenn Deutschland den USA darin folgen sollte, Angaben zu Hautfarbe und ethnischer Herkunft in die Bevölkerungsstatistik einzubeziehen, würde die Frage der Ungleichheit zwischen Hautfarben und Ethnien zweifellos große Bedeutung gewinnen. Warum? Weil mit zunehmender Ungleichheit unserer Gesellschaften diejenigen, die von dieser Ungleichheit profitieren, umso weniger erpicht darauf sind, über Klassenunterschiede zu sprechen, und darum desto begieriger von Ethnien reden.

Selbst wenn es gelänge, das Wohlstandsgefälle zwischen Weißen und Schwarzen zu beseitigen, bliebe das zwischen Reichen und Armen davon unberührt. Ökonomisch gesprochen: Gleichheit der „Rassen“ ist Gleichheit ohne Gleichheit. Darum ist sie bei Unternehmen so beliebt. Dem Wall Street Journal zufolge haben die Unternehmen bis Ende 2020 insgesamt 35 Milliarden Dollar für die Förderung dieser Art Gleichheit ausgegeben. Es gibt eine Internetseite – den Corporate Racial Equity Tracker –, die einen über Diversitätstrainings, Entgeltgleichheit etc. informiert. Doch es gibt keine Internetseite, die den Fortschritt der Unternehmen in Richtung Sozialismus verfolgt.

Walter Benn Michaels ist Literaturtheoretiker. Der Text ist das bearbeitete Vorwort zur deutschen Auflage seines Buchs Der Trubel um Diversität (Edition Tiamat)

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