Ein Fiasko mit Ansage

Bildungsnotstand Man könnte meinen, Lehrermangel und Investitionsstau hätten die Politik auf dem falschen Fuß erwischt. Dem ist nicht so – man hätte es besser wissen müssen

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Foto: Martin Bureau/AFP/Getty Image

Seit einigen Monaten beherrschen die Themen Lehrermangel, Investitionsstau in Bildungsinfrastrukturen die Berichterstattung und zunehmend den laufenden Bundestagswahlkampf. Man könnte meinen, ein riesiger Meteorit sei völlig überraschend in Deutschland aufgeschlagen und nun herrsche Ausnahmezustand. Dem ist nicht so, denn es gibt da eine Vorgeschichte. Die dargestellten Beispiele aus Sachsen-Anhalt mögen krass sein. In ähnlicher Form fanden und finden sie aktuell in vielen Bundesländern statt.

2010-2012: Der Umgang mit dem Reizwort demografischer Wandel

In ganz Deutschland, besonders jedoch in den neuen Bundesländern, war dies ein Thema, welches von der Politik aufgegriffen werden musste. Ein dramatischer Bevölkerungsverlust nach der Wende, das Fehlen einer ganzen Generation prägten demografische Prognosen bis 2035 und Projektionen bis 2050. Dazu kam für die neuen Bundesländer die Frage, wie es nach dem Auslaufen des Solidarpaktes im Jahre 2019 weiter gehen könnte und solle.

Sachsen-Anhalt führte 1994 und 2007 zwei Kreisgebietsreformendurch. Bei der letzten Reform wurde die Zahl der Landkreise von 21 auf 11 reduziert. Was folgte, war 2010 die Gemeindegebietsreform. Im Anschluss an diese Reformen ging es im nächsten Schritt darum, das öffentliche Schulnetz den neuen Gegebenheiten anzupassen. In Sachsen-Anhalt war ursprünglich geplant, rund 160 von 520 Grundschulen zu schließen, indem die Mindestschülerzahlen von 40 auf 80 Kinder/Schule deutlich angehoben wurden. Bereits im Jahre 2014 reduzierte man diese Zahl unter dem Druck massiver Proteste auf 60 Kinder/Schule.

2013-16: Die Sache mit der demografischen Rendite

Waren es ursprünglich Demografie und Spardruck, welche als Argument für die Schließung kleiner Schulen angeführt wurden, so lautete ab 2013 das Thema „Lehrkräfte können nur in großen Schulen effizient arbeiten“. Weniger, „aber gute“ Schulen, war plötzlich eine neue Planungsgröße. Die daraus folgende Entstrukturisierung ländlicher Räume wurde begründet mit „können wir uns nicht mehr leisten“. Das Argumentarium lieferten regionalisierte Bevölkerungsprognosen, Stiftungen mit „Zukunftsszenarien“ (Altmark im Jahre 2050, Bauhausstudie), welche sich inhaltlich wie ein Ei dem Andern glichen. Der Tenor: Der demografische Wandel zwingt uns zu einem massiven Leistungsabbau und Umdenken, die „finanziell angespannte Situation lässt uns keine andere Wahl“ . Dies in einem der reichsten Industrieländer und bei laufend steigenden Steuereinnahmen.

Weitere Grundlagen lieferte die Bertelsmann-Stiftung mit ihrem „Kommunaler Wegweiser 2011“, welcher das demografische Katastrophenszenario auf Kommunalebene hinunter gerechnet hatte, was für viele Länder und Kommunen die Planungsgrundlage schlechthin war!

Ein nicht zu vernachlässigender Effekt: Indem dieser vorauseilende Strukturabbau vollzogen wird, schafft man erst die Voraussetzungen, dass sich diese Prognosen im ländlichen Raum auch erfüllen! Entwicklung einer Gegenstrategie? Fehlanzeige. Es wurden und werden No go areas für Kinder mit Familien geschaffen. Die Wegebeziehungen Wohnort-Betreuung-Grundschule-Gymnasien sind vielerorts familienfeindlich geworden.

Bis heute forcieren die Landesrechnungshöfe diesen „Strukturwandel“:15 kleine Grundschulen in Niedersachsen sollen nach Ansicht des Landesrechnungshofes sofort geschlossen werden...Die betroffenen Kommunen könnten damit insgesamt 750 000 Euro im Jahr sparen, erklärte Rechnungshofpräsidentin Sandra von Klaeden am Donnerstag in Hannover....In einem zweiten Schritt bis zum Schuljahr 2020/21 müsse das Aus für acht weitere Schulen folgen. (Weser-Kurier 30.9.2016) Gegenfrage: Wieviel Wertverlust entsteht eigentlich für die Ortsteile oder Kommunen, welche ihre Schulstandorte verlieren (Wohnattraktivität, Steuerkraft, Wert der Immobilien etc. )? Wie hoch sind die Kosten für den nun zu stellenden Schülertransport? Wieviele Lehrkräfte können denn konkret eingespart werden, wenn eine „kleine Schule“ mit 55 Kindern schließt? Wie gehen einige wenige „große“ Schulen mit demografischen Ausschlägen nach oben um?

Findige Köpfe nannten diese Strategie „Erzielung und Steigerung demografischer Rendite“. Krasser formuliert: Indem bereits heute auf Versorgungsstrukturen hingearbeitet wird, wie sie Prognostiker für die Jahre 2035-50 prophezeihen, betreibt man demografiehörigen Strukturabbau und glaubt damit, auch noch nachhaltig Gewinn zu erzielen.

Dieser Begriff umfasst also deutlich mehr als Personaleinsparung dank rückläufiger Demografie. Er beinhaltet beispielsweise auch das Zurückfahren von Investitionen und Dienstleistungen der öffentlichen Hand für ländliche Infrastrukturen. Voraussetzung: Kontinuierlich abnehmende Bevölkerungszahlen. So weit die Theorie.

An Stelle von Rendite Investitionsstau auf allen Ebenen

Seit 2013 warnen Gewerkschaften und Verbände vor dramatischen Personalengpässen im Bereiche Bildung und Kinderbetreuung. Der Grund liegt in der Altersstruktur des Lehrkörpers und Betreuungspersonals. Demzufolge gehen beispielsweise in Sachsen-Anhalt jährlich rund 700 Lehrkräfte in Rente, dem stehen bisher 550 Studienplätze jährlich zur Verfügung, deren Zahl ab 2018 auf 850 erhöht werden soll. Die GEW fordert 1100 Studienplätze. Es geht also auch hier um die Bereitsstellung von sehr viel Geld aus dem Landeshaushalt für eine Maßnahme, welche frühestens in 6 Jahren greifen wird und schon längst hätte eingeleitet werden sollen. Der aktuelle Lehrermangel ist politisch eigenverschuldet oder gewollt, denn auch nach den früheren Prognosen ist in den kommenden 5 Jahren mit zunehmenden Schülerzahlen zu rechnen.

Laut der Förderbank KvW beträgt der bundesweite Investitionsstau an öffentlichen Schulen rund 34 Mia Euro. Die Kehrseite der demografischen Rendite! Viele öffentliche Schulen befinden sich bezüglich ihres Bauzustandes auf einem absolut erbärmlichen Niveau und unterscheiden sich kaum von Gebäuden in Schwellenländern. Die Gründe sind vielfältig und die Kommunen als Schulträger sind bei diesem Thema nicht Täter, sondern Opfer einer restriktiven Finanzpolitik der Länder und des Bundes.

Dann kommt die Bertelsmann-Stiftung und alles ist anders !

Seit 2012 weisen die Kommunen auf gravierende Unterschiede von bis zu 20% zwischen den Regionalisierten Bevölkerungsprognosen und der tatsächlichen Situation vor Ort hin. Was von den Landesregierungen als „Einzelfall“, „Ausreißer,“ „ändert nichts am großen Trend“ abgetan wurde, pulverisierte dann eine einzige Studie: Die Bertelsmann-Stiftung schraubt im Juli 2017 die Zahlen der zu erwartenden Schüler in Deutschland im Jahre 2025 um 1,1 Mio hoch. 2/3 dieser Zunahme sind begründet mit mehr Geburten als erwartet, 1/3 sind schulpflichtige Kinder von Flüchtlingen. Nicht 7,2 Mio, wie die Kultusministerkonferenz 2013 noch prophezeit hatte, sondern 8,3 Mio.

Wir haben also nicht nur einen bedrohlichen Lehrermangel, sondern neu einen zusätzlichen Bedarf von bundesweit 27 000 Lehrkräften, welche zuerst an Grundschulen und dann in den oberen Schulstufen benötigt werden. Wir brauchen dringend zusätzlichen Raum (für 2025 bundesweit ca. 2500 neue Schulen) Wir müssen folglich notfallmäßig aufbauen, was wir noch vor wenigen Jahren nieder gerissen haben oder perspektivisch stillzulegen gedachten. Ein Milliardengeschäft!

Damit beginnt die gesamte Diskussion um das öffentliche Schulnetz neu. Ob der ländliche Raum nach den aktuellen Erfahrungen in der neuen Planung als Lebensraum mit Potential für junge Familien mit einbezogen und gefördert wird?

Es ist zu hoffen.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

walteranamur

Walter HelblingNeugieriger Grenzgänger zwischen den Kulturen, sozialkritisch, dank Rentnerstatus Zeit für alles, was mich interessiert.

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