Das Ende der Libreta

Kuba Die Wirtschaftsreformen auf der Karibikinsel kommen voran, wenn auch langsam. Präsident Raul Castro wehrt sich gegen Tendenzen des moralischen Verfalls
Ausgabe 50/2013
Das Ende  der Libreta

Foto: Adalberto Roque / AFP / Getty

So ein Trubel!“, sagte mir ein Berliner Tourist vor Kurzem in Havanna, „das hat es auf dem Alexanderplatz noch nie gegeben.“ Er war fasziniert vom Treiben in der Altstadt. Und die ist bunt geworden. Ausrufer vor gerade eröffneten Cafés und kleinen Restaurants, Getränkewägelchen, Obst- und Souvenirstände – überall lachende, schwatzende, jeden Passanten mit Witz und Laune ansprechende, laute Kubaner. Tanzende Gruppen auf dem Platz der Kathedrale, Mädchen in gerüschten Flamencokleidern, alte Frauen, wild geschminkt, die dicke Zigarre im Mund. Jedermann jederzeit bereit zu einem Foto in Pose – für einen CUC, einen Peso der kubanischen Zweitwährung. Allein die Dominorunden der alten Männer an ihren wackligen Tischen am Straßenrand gestatten das Foto wie bisher gratis.

Sollten auch sie insgeheim überlegen, sich die begehrten CUC zu ergattern, müssten sie bald handeln, denn die Zweitwährung soll verschwinden. Präsident Raúl Castro hat schon im Juli vor der Nationalversammlung erklärt und dies inzwischen bekräftigt, das Phänomen der Doppelwährung sei „eines der wesentlichsten Hemmnisse für den Fortschritt der Nation“.

Dass die zweite Währung – 1995 eingeführt, in der schlimmsten Phase der „Sonderperiode“, als Kuba nach dem Zusammenbruch des sozialistischen Lagers 85 Prozent seiner Handelspartner verlor und einen ökonomischen Abstieg sondergleichen verkraften musste – ein Teufelsding ist, war von Anfang an klar: Sie hat das Land gespalten in diejenigen, die sich Devisen beschaffen und in CUC umtauschen können, sowie in den (größeren) Teil der Bevölkerung, der vom Nationalpeso leben muss. Diese Kubaner können zwar ihren Lohn in Banken oder Wechselstuben gegen CUC einwechseln, aber danach nicht leben und nicht sterben, denn für das monatliche Durchschnittseinkommen von etwa 500 Pesos erhält man 20 CUC. Und ein Liter Benzin kostet einen CUC und damit so viel wie in Havanna eine Kiste Mineralwasser.

Mit anderen Worten, die Zweitwährung hat gefährlichen Unmut erzeugt, vom Verlust einer lange gepflegten Gerechtigkeitsillusion nicht zu reden. Den CUC abzuschaffen, ist dennoch nicht einfach, weil damit auch – wie bereits mehrfach angekündigt – der Libreta die Stunde schlägt. Diese Bezugskarte für Waren des Grundbedarfs (s. Glossar) zu winzigen Preisen hat in den 51 Jahren ihrer Existenz dreierlei bewirkt: die Grundversorgung für jeden garantiert, Gleichmacherei gefördert – selbst das Baby bekommt die Grundration – und den Schwarzhandel angetrieben. Man nimmt, was man selbst nicht benötigt, und verkauft es an der nächsten Ecke teurer weiter. Arbeitseifer und Arbeitsdisziplin war die Libreta nicht eben zuträglich. Mit dem Notwendigsten konnte man sich immer versorgen, dank der lächerlichen Preise, die der Staat subventioniert hat.

Wenn CUC und Libreta nun ausgesorgt haben, ist das reformerischem Umbau geschuldet. „Anpassung des sozialistischen Modells“ hat die kubanische Regierung im Herbst 2010 das Projekt genannt, mit dem Wirtschaft und Staat „den Erfordernissen der Zeit“ angepasst werden sollen, wie es offiziell heißt. Diese führen zu einem anderen Lohn- und Preissystem, einer Anpassung der Renten und staatlichen Subventionen – und beschwören eine Herkulesaufgabe herauf: 318 Leitlinien gelten 318 Einzelmaßnahmen für Handel, Bauwesen, Energie, Transport, Landwirtschaft, Tourismus, Soziales und so weiter. Zunächst wurden die vielen Vorschriften und Verbote kassiert, die dem Neuen entgegenstehen (allerdings sind darüber nun gut drei Jahre vergangen). Kubaner können inzwischen Immobilien und Fahrzeuge kaufen und verkaufen, der Staat zahlt Beihilfen für den Bau oder die Reparatur von Wohnungen in Eigenregie, eine weitgehende Reisefreiheit ist eingeführt. Ein Teil des bisher brach liegenden Landes wurde zur agrarischen Produktion vergeben. Kooperativen sind auch außerhalb der Landwirtschaft, etwa im Handel, zugelassen. In der Konsequenz bietet sich für die „Arbeit auf eigene Rechnung“ jetzt beträchtlich mehr Spielraum. Das hat Bewegung ausgelöst, aber sie betrifft Nebenschauplätze.

Auf eigene Rechnung

Entscheidend für den „Fortschritt der Nation“ ist das Funktionieren der Wirtschaft. Wäre sie effektiv, hätten sich Zweitwährung und Libreta längst erledigt. Sicher ist Kubas Ökonomie inzwischen vielfältiger geworden – zu reinen Staatsunternehmen kommen solche mit ausländischer Beteiligung, Kooperativen, kleine Agrarfarmen, Pächter in der Landwirtschaft und eben die privaten Dienstleister. Aber „die wesentlichen Produktionsmittel sind und bleiben gesellschaftliches Eigentum. Es gibt keine Veränderung hin zum Kapitalismus. Wir flirten auch nicht mit den Regeln jenes Systems, ganz im Gegenteil“, so Vizepräsident und Wirtschaftsminister Marino Murillo in der Nationalversammlung. Aber es gehe um einen Wandel in den Staatsbetrieben, um Verwaltung und Finanzierung, um mehr Spielraum für Eigeninitiative, auch bei der Lohnpolitik. Ab 2014 werden die Betriebe 50 Prozent ihrer Einnahmen nach Steuern zur eigenen Verwendung behalten können. Unrentable Unternehmen – im Moment sind das landesweit etwa 50 – sollen fusionieren oder schließen.

Warum jetzt der Aufschrei?

Wenn die Arbeitsproduktivität seit Jahrzehnten zu niedrig bleibt, ist das dem sozialistischen Wirtschaftsmodell in seiner kubanischen Spielart geschuldet (auch entwickeltere sozialistische Länder haben das Problem nicht gelöst). Verschärft wird es durch das seit mehr als 50 Jahren verhängte US-Handelsembargo wie die Tatsache, dass man in Kuba leicht leben kann, ohne zu arbeiten. Überdies hat die Mangelwirtschaft zu einer Mentalität geführt, die alles erschwert – wohl der entscheidende Grund für den Präsidenten, einen Verfall der Sitten wie auch der Arbeitskultur zu beklagen. Es scheine normal, so Raúl Castro, den Staat zu bestehlen, illegal Häuser zu bauen, Mangelprodukte mit gestützten Preisen zu hamstern und sie teurer weiterzuverkaufen, Meerestiere zu fangen, die auf einer Liste der vom Aussterben bedrohten Arten stehen, und sogar Teile des Botanischen Gartens von Havanna zu roden, um sich am Holz zu bereichern. Es würden Bestechungsgelder angenommen, Touristen belästigt, öffentliche Anlagen zerstört oder Straßen und Parks als Toiletten genutzt. Werte wie Ehrlichkeit, Anstand, Schamgefühl, Würde, Aufrichtigkeit – die einfachsten Normen guten Benehmens und Respekts vor dem Anderen seien verloren. Es ist eine schier endlose Liste, die Raúl Castro vor der Nationalversammlung mit dem Satz resümiert: „Ich habe das bittere Gefühl, dass wir zwar eine immer belesenere Gesellschaft sind, aber nicht notwendigerweise eine kultiviertere.“

Da ist etwas ehrlich ausgesprochen worden. Aber die Missstände sind seit Jahren bekannt. Warum jetzt der Aufschrei? Weil die ökonomischen Maßnahmen nicht greifen? Der positive Grundton und die Zahlen fast erfüllter Pläne wie in diesem Jahr überzeugen offensichtlich nicht. Die Gewerkschaftszeitung Trabajadores titelte jüngst: „Raúl: Wir kommen weiter voran, und die Resultate machen sich bemerkbar.“ Ein anonymer Kommentar auf der Internetseite der Zeitung dazu: „Dieses Vorankommen sollte für die Bevölkerung greifbar sein.“

Waltraud Hagen schrieb zuletzt über die katholische Kirche in Kuba und deren Beziehungen zum Vatikan

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