Die alte Geschichte von Robin Hood

Ost-Blick An Fidel Castro begeisterte das Lebendige und Unabhängige. Das war anders, als man Sozialismus aus der DDR kannte
Ausgabe 11/2016
In der Sicht auf Fidel Castro schwang anfangs viel Idealismus und Romantik mit
In der Sicht auf Fidel Castro schwang anfangs viel Idealismus und Romantik mit

Foto: Sven Simon/Imago

In dieser Zeitung habe ich die kubanische Revolution irgendwann einmal als die schönste des vergangenen Jahrhunderts bezeichnet. Das gilt, jedenfalls für mich. Wahrgenommen habe ich sie erst 1960 oder 61 und nicht wirklich mit dem Verstand als politisches Ereignis, sondern als Variante der alten Geschichte von Robin Hood. Ich erinnere mich an die ersten Fotos der drei Anführer: Fidel mit der Baseballcap, Che mit der Baskenmütze und dem Stern, das Haar weich sein Gesicht umspielend, Camilo mit dem Cowboyhut – so viel Idealismus, so viel Romantik. Den Reichen nehmen, den Armen davon geben. Das schöne Streben nach Gerechtigkeit. So einfach. Wer damals jung war, hatte es gut.

Und dass die Bärtigen hielten, was sie versprochen hatten! Bodenreform und Alphabetisierung und Wohnungen für die einfachen Leute, Schulen, Krankenhäuser sowie Nationalisierungen der ausländischen Unternehmen, vor allem der US-amerikanischen. Es schien so logisch und richtig. „Fidel seguro, a los yanquis dale duro!“ („Fidel, gib den Yankees Saures!“). Wir glaubten an die eigene Zukunft, und jede Revolution, jede Bewegung zu nationaler Unabhängigkeit hin bestärkte uns.

Was für eine Ausstrahlung! Kuba hielt uns. Noch lange nachdem die ersten Intellektuellen aus dem Westen ihren offenen Brief an Castro gerichtet hatten und davor warnten, das sowjetische Modell der Denk-Enge zu übernehmen. War die Insel nicht gerade auch deshalb so attraktiv, weil dort viel laut ausgesprochen wurde? Und nicht von irgendwem, sondern vom Staatschef. Ohne Floskeln, ohne Ausreden, auch die Niederlagen, die eigenen – jedenfalls da, wo sie groß und sichtbar waren. Die angestrebte Zehn-Millionen-Tonnen-Zuckerernte 1970, das Chaos in den anderen Bereichen der Wirtschaft, um dieses übermäßige Ziel zu erreichen, das grandiose Scheitern schließlich – und die Verantwortung dafür. Wo sonst stand ein Staatsmann so klar zu seinem Fehler? Wo sonst war einer überhaupt so als Mensch zu sehen?

Auf der Seite Davids

Ich habe Fidel oft auf dem Platz der Revolution in Havanna gehört. Er entwickelte seinen Gedanken beim Sprechen, drehte und wendete ihn, befreite ihn von aller Schlacke, polierte ihn und bot ihn auf der flachen Hand den Zuhörern an. Sie verstanden. Und da er konkret sprach, nicht in inhaltslos gewordenen Wendungen wie die europäischen Sozialisten, konnte man sogar dagegen andenken. Auffassungen wie sein oft wiederholtes „Diese Generation muss sich opfern“ waren schon sehr befremdlich, als Aufforderung an ein ganzes Volk. Aber sie stellten den Mann nicht in Frage. Es war nur ein Aspekt, bei dem man nicht mitgehen wollte. Und diese Möglichkeit zu haben – das war anders als zu Hause.

Vor seiner ersten Reise in die DDR 1972 kam bei den Berliner Organisatoren leises Entsetzen auf: Fidel ging der Ruf voraus, das Protokoll jederzeit über den Haufen zu werfen. Das war es, was uns gefiel, dieses Lebendige und Unabhängige. Und das so starke Behaupten des Eigenen. Bei der Raketenkrise zum Beispiel, die öffentliche Kritik an Chruschtschow, Kuba vor vollendete Tatsachen nach den Verhandlungen mit den USA gestellt zu haben. Wir waren mit David. Auch wenn er sich irrte, auch wenn er sich verhob. Und die USA trugen mit ihrer Politik der Blockade und der Feindschaft gegen Kuba noch dazu bei.

Ein alter Bauer sagte mir vor vielen Jahren: „Schade, dass der Sozialismus mich erst so spät erwischt hat, ich hätte viel mehr für ihn tun können.“ Und als es in den 90er Jahren schließlich zu einer Protestdemo auf dem Malecón in Havanna kam, ging Fidel dieser entgegen, allein, ohne seine Sicherheitsleute, und einer aus dem Zug der Protestierer gegen irgendwas sagte kopfschüttelnd und geschlagen: „Der Alte ist verrückt“, und verkrümelte sich.

Ach, es war nicht nur politisch, sondern eben auch menschlich. Dass Kuba in Lateinamerika die Rebellenbewegungen unterstützte – wunderbar. Der Einsatz kubanischer Ärzte in armen Ländern der Dritten Welt – wunderbar. Dass Kuba das wenige, was es hatte, mit anderen teilen wollte – wunderbar. Die militärische Unterstützung für den Befreiungskampf in Angola und Äthiopien – auch wunderbar? Schwieriger schon.

Hunger und Entfremdung

Natürlich sahen wir, dass die Wirtschaft hing, aber Kuba kam aus der Unterentwicklung. Der kleine Guajiro – wo sollte er Arbeitsdisziplin gelernt haben oder Organisation? Er kannte nicht mal den Begriff der Arbeitsproduktivität. Wenn ich aus Berlin nach Kuba kam, fand ich den so armen Alltag bedrückend: unproduktiv zu arbeiten und es nicht einmal zu bemerken. Aber von Nicaragua nach Kuba kommend, sah ich das Erreichte: die neuen Schulgebäude, die Polikliniken oder Gesundheitsstützpunkte selbst in den winzigsten Dörfern. Kuba war in seinen sozialen Errungenschaften Mittelamerika weit voraus.

Als die Gewissheiten schwanden, wurden die Fragen deutlicher: Wie ist das mit einem Wirtschaftssystem, das in sich schwerfällig ist, zu unproduktiv? Wie ist es mit einer überragenden Führerfigur, die Prinzipien so hoch hält, dass Kompromisse schwer werden? Wie lange ist ein Volk fähig, einer Ideologie zu folgen, wenn der Alltag sie zerpflückt? Und als der Hunger kam, begann die Entfremdung. Nach 1990 hielt sich kein zuvor sozialistisches Land an Verträge mit Kuba, niemand lieferte mehr. „Ich möchte, dass die Revolution überlebt“, so ein Reiseführer später, „aber damals geriet alles ins Wanken. Ich war jung und habe gehungert, zum Abendbrot gab es nur Zuckerwasser.“

Die USA verstärkten das Embargo und die Insel ihren immensen, geradezu trotzigen Willen durchzuhalten. Und sie musste doch auch umdenken. Die Innenpolitik brauchte Bewegung. Raúl Castro ging es vorsichtig an, als zweiter Mann und ab 2006 im Präsidentenamt. Sozialismus ja, nach wie vor Staatsbetriebe, aber „Aktualisierung des Modells“, das heißt Abbau unproduktiver Betriebe, Ausweitung privater Dienstleistungen oder gesetzlich verankerte Anreize für ausländische Investoren. Heute können Kubaner Immobilien und Fahrzeuge kaufen und verkaufen, der Staat zahlt Beihilfen für Bau oder Reparatur von Wohnungen in Eigenregie, eine weitgehende Reisefreiheit gilt. Die Normalisierung der Beziehungen zu den USA wurde auch durch diese Veränderungen, denen man eigensinnigerweise den Begriff „Reformen“ versagt, möglich und unterstützt sie gleichzeitig.

Jetzt bleibt abzuwarten, was der Besuch Obamas bringt. Warten auf den Tag, an dem der US-Kongress endlich die Blockade abschafft, Kuba weltweit handeln kann und behandelt wird wie andere Länder auch. Dann, erst dann wird sich zeigen, welche Zukunft die Insel wirklich will.

Waltraud Hagen war Lateinamerika-Korrespondentin des DDR-Fernsehens

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