„Weil der Präsident das Volk ist“, so begründete Daniel Ortega 1985 seine erste Wahl zum Staatschef nach der Sandinistischen Revolution. Die vereinfachte Gleichsetzung sollte den kleinen Leuten, den Armen und Analphabeten in Nicaragua, sagen, dass er und die Sandinistische Befreiungsfront (FSLN) in ihrem Interesse regieren würden. Da lagen aber sechs Jahre der Revolution hinter ihm, eine Zeit aufbrechender Differenzen über Gegenwart und Zukunft des Landes nicht nur unter den fünf Mitgliedern des 1979 eingesetzten Regierungsrates, auch innerhalb der FSLN selbst. So fügte Ortega, an alle gewandt, damals hinzu: „Wir übernehmen diese Funktion als Kamerad Präsident aller Nicaraguaner, ohne Einschränkung der politischen Farben.“ Wenn heute der Name Daniel Ortega Saavedra in den Medien auftaucht, ist es gerade die Einschränkung der politischen Farben, der Menschenrechte wie unabhängigen Medien, die internationale Kritik und Verurteilung auslöst.
Im November finden Präsidentschaftswahlen statt, und Ortega wird erneut für die Sandinisten antreten. Nach seiner ersten Amtszeit 1985 – 1990 dreimal gescheitert, gewann er 2006 erneut mit 38 Prozent, dann 2011 mit 62 und 2016 mit 72. Soziale Programme wie „Hambre cero“ (Null Hunger), zum Wohnungsbau, kostenloser Bildung und medizinischer Betreuung brachten ihm Zustimmung. Die Bereitschaft, auf Kirche und Unternehmerverband zuzugehen, erleichterte Investitionen und internationale Kredite. Preiswertes Erdöl aus Venezuela half ebenso wie die Zersplitterung der Opposition.
Jetzt strebt er seine vierte Amtszeit in Folge an. Aber im Januar kam plötzlich ein neuer Name in die Schlagzeilen: Cristiana Chamorro kündigte ihre Kandidatur an. Damit blitzte die Gefahr auf, die Opposition könne sich hinter ihr sammeln. Prompt warf ihr die Regierung Geldwäsche wie Veruntreuung von Geldern vor und stellte sie unter Hausarrest. Allein der Name Chamorro mag Ortega beunruhigt haben. Pedro Joaquín Chamorro, der Vater der Bewerberin, war Unternehmer, Politiker, Herausgeber wichtiger Zeitungen – und erklärter Gegner des Clans von Diktator Somoza, der ihn im Januar 1978 ermorden ließ. Dieses Schicksal und Ortegas anfängliches Prinzip, politische Farben nicht einzuschränken, brachten der Witwe Violeta Barrios de Chamorro 1979 mit der Revolution einen Sitz im Regierungsrat. 1990 dann stieg sie zu Ortegas direkter Gegnerin auf und gewann die Präsidentschaft, er verlor.
Nun also die Tochter Cristiana. Der zeitliche Zusammenhang zwischen ihrer Ankündigung und den Beschuldigungen ist offensichtlich. Der Verdacht, dass die Stiftung Chamorro, deren Direktorin sie war, aus den USA Geld erhielt, ist nicht neu. Auch nicht, dass damit rechte Medien und Politiker unterstützt wurden. Gerade weil es Einmischung von außen gab, erließ man ja 2020 ein Gesetz gegen die externe Finanzierung politischer Parteien und Gruppierungen. Es gibt diesen Hintergrund, wenn nicht, würde sich Ortega doch wohl gehütet haben, es überhaupt so aussehen zu lassen. Dazu kommt die Verhaftung weiterer Oppositioneller. Warum gerade jetzt? Wird die Stimmung unberechenbarer? Nehmen Proteste zu? Es ist trotz geänderter Verfassung nicht so einfach, viermal hintereinander eine Präsidentenwahl zu gewinnen. Als 2018 eine Reform der Sozialversicherung anstand – „jeder wusste, dass es geschehen muss“, so Ortega später – und höhere Beiträge und gekürzte Leistungen absehbar waren, gingen vor allem junge Leute auf die Straße. Die Regierung sprach von einem Putschversuch und reagierte mit Gewalt. Es gab viele Tote. Mike Pompeo, Donald Trumps Außenminister, nannte Ortega daraufhin einen „Diktator“. Trump selbst erklärte Nicaragua zur „ungewöhnlichen und außerordentlichen Bedrohung der nationalen Sicherheit“.
Daniel Ortega dagegen machte öffentlich, wie die US-Behörde für Entwicklungszusammenarbeit (USAID) Jahr für Jahr NGOs und Oppositionelle in Nicaragua finanziert hatte, zu Reisen in die USA einlud, Stipendien gewährte. Dazu verhängten die USA Sanktionen. 2018 zunächst ökonomische, mittlerweile unter Joe Biden gegen das Umfeld Ortegas, seine Frau Rosario Murillo, seit 2017 Vizepräsidentin, und die Tochter Camila Ortega Murillo. Sie alle seien Unterstützer „eines Regimes, das die Menschenrechte missbraucht, die Demokratie untergräbt und unabhängige Medien zum Schweigen bringt“. In einem länger zurückliegenden Interview sagte ein angeschlagen wirkender Ortega: „Wenn man sich ihnen (den USA – W.H.) nicht unterwirft, kommt es zu einer Aggression.“ Das sagt die Erfahrung einem Mann, der in jungen Jahren gewiss andere Träume hatte.
Aber was, wenn man seinen eigenen Schatten nicht mehr sehen kann? Wenn Macht zum Lebenssinn wird? Es häufen sich die Angriffsflächen. Gefährten von gestern, zumeist Intellektuelle, sahen die Gefahr und gründeten vor Jahren bereits eine Sandinistische Erneuerungsbewegung, jedoch im Volk verankert sind nicht sie. Dora María Tellez, einst Kommandantin der Revolution und jetzt auch verhaftet, sagte der spanischen Zeitung El País: Ziel Ortegas sei es, „den Stimmzettel von allen existierenden Kandidaten der Opposition zu säubern“. Sergio Ramírez, Vizepräsident von 1985 – 1990, spricht von einem Abgrund. Andere sehen gar in der Herrschaft Ortegas und seiner Familie Ähnlichkeiten zu dem Modell, das die Revolution für immer beseitigen wollte. Ob sich der 75-Jährige wohl manchmal an seine Worte von damals erinnert? An dieses „der Präsident ist das Volk“? Und an die Nichtbeschränkung der politischen Farben?
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