Wenn die Funken fliegen

Kuba Der Aderlass durch Entlassungen im öffentlichen Sektor hat begonnen. Für Staatschef Raúl Castro ein unverzichtbarer Rettungsakt, um das Überleben des Systems zu sichern

Mit einer Anekdote hat Raúl Castro kürzlich das Dilemma Kubas verdeutlicht: „Nach dem Ende des US-Krieges hatte die Regierung in Hanoi Kuba gebeten, die Vietnamesen zu lehren, wie man Kaffee anbaut. Wir gingen hin, zeigten es ihnen ... Heute steht Vietnam als Kaffee-Exporteur weltweit an zweiter Stelle. Und ein vietnamesischer Beamter fragt seinen kubanischen Kollegen, wie es möglich sei, dass wir, die wir sie einst den Anbau lehrten, heute bei ihnen Kaffee kaufen“. Sarkastisch schob er nach: „Ich weiß nicht, was der Kubaner geantwortet hat. Sicher hat er gesagt: die Blockade.“

Die Kubaner kennen genügend Beispiele chronischer Ineffizienz, die wenig amüsant sind. Das jüngste ist die Nachricht, das Land werde 2011 Millionen Dollar verlieren, weil jetzt – da der Weltmarktpreis für Zucker nach langem Dümpeln im Keller endlich etwas bringt – die Produktionspläne nicht erfüllt sind. Obwohl die Führung seit Monaten für mehr Produktivität trommelt.

Auf eigene Rechnung

Wenigstens sind die im Herbst angekündigten ökonomischen Maßnahmen Anfang Januar pünktlich wie selten etwas auf der Insel angelaufen. Erste Konsequenzen im Alltag allerdings tragen zur weiteren allgemeinen Verunsicherung bei. In Sancti Spíritus etwa sind die Preise für Fahrten im Pferdewagen – das öffentliche Transportmittel der Stadt – von den Betreibern um bis zu 300 Prozent erhöht. Auch die Stromtarife steigen. Der Wasserpreis kann folgen, denn zur Zeit steht Havanna vor der größten Trinkwasserknappheit seit 50 Jahren; größtenteils durch marode Leitungen verursacht. Der Kaffee wird wieder mit Beimischungen gestreckt, um die Zuteilung zu sichern. Und die Ankündigung des Ministeriums für Binnenhandel, dass Hygieneartikel nicht mehr über die Libreta – das Versorgungssystem mit Basisprodukten zu hoch subventionierten Preisen – bezogen werden können, erschreckt landesweit. Im freien Verkauf kostet Seife nun fünf Peso, Zahnpasta acht bei einem Durchschnittslohn von 500 Peso.

Gravierender wirkt sich die anlaufende Entlassungswelle für zunächst 500.000 Arbeitskräfte des staatlichen Sektors aus. Seit Jahresbeginn geht die Angst um. „Wir sprechen nicht vom Jahr, das kommt, sondern vom Land, das kommt“, schrieb die Zeitung Granma jüngst. Betroffen sind vorerst Zuckerindustrie, Landwirtschaft, Bau- und Gesundheitswesens und Tourismus. In diesen Branchen sind comisiones de expertos eingesetzt, deren fünf bis sieben Mitglieder unter den Belegschaften diejenigen auswählen sollen, die für eine Weiterbeschäftigung „nicht geeignet“ sind. Die „Funken fliegen“, so ein Gewerkschaftsmann. Schon werden Stimmen laut, dass die Kommissionen „Übel wie Begünstigung oder Cliquenwirtschaft und oberflächliche Analysen“ vermeiden mögen.

2011 trifft es 146.000 einfache Arbeiter und 351.000 Beamte, die freigesetzt werden. In den nächsten drei Jahren kommen weitere 800.000 dazu. 1,3 Millionen insgesamt, die aus dem staatlichen Sektor (90 Prozent der Wirtschaft) entlassen und vom privaten Arbeitsmarkt aufgefangen werden sollen. Dessen Ausweitung ist inzwischen angelaufen; seit Oktober wurden 85.000 Anträge gestellt und bisher 75.000 Lizenzen für insgesamt 178 Berufe und Beschäftigungen vergeben, in denen „Arbeit auf eigene Rechnung“ möglich wird. Zumeist für „Herstellung und Verkauf von Lebensmitteln“ – darunter Restaurants.

16 Prozent der bisherigen Antragsteller sind Arbeiter, 15 Prozent Rentner – 68 Prozent Leute, die gar nicht gearbeitet haben. Der Begriff „Arbeitsbummelanten“ trifft sie nur bedingt. Vielmehr bot diesen Kubanern das Lohnsystem keinerlei Anreiz: Wer monatlich von exilkubanischen Angehörigen in den USA 50 Dollar als Beihilfe bezieht, dem verbleiben nach Abzug einer 20-prozentigen Steuer noch immer umgerechnet 1.000 Peso, das Doppelte des Durchschnittslohns. Generell ziehen die Prozentzahlen zumindest im Moment die Aufnahmefähigkeit des Privatsektors für Entlassene in Zweifel.

Wann immer es in der Geschichte der kubanischen Revolution Perioden gab, in denen Privatinitiative – mehr oder weniger eingeschränkt – zugelassen wurde, waren es Zeiten größter Not. Zum Beispiel, als das Land nach dem Zusammenbruch des sozialistischen Lagers vor dem Kollaps stand und hungerte. Aber die kleinen Marktfreiheiten wurden bei geringer Erholung sofort wieder zurückgedreht. Diesmal steht hinter den Maßnahmen der Regierung ein anderer Ernst.

Moralisches Entsetzen

„Entweder wir korrigieren uns oder – da die Zeit, weiter am Abgrund zu balancieren, vorbei ist – wir gehen unter“, so Raúl Castro vor der Nationalversammlung im Dezember. Die Privatinitiative gilt nun nicht mehr als notwendiges Übel, sondern als Werkzeug für Produktivität und Effizienz – es sind erste Schritt zu einer gemischten Wirtschaft, nicht mehr und nicht weniger. Die wichtigen Produktionsmittel bleiben staatlich. Gesundheitssystem, Bildung und andere Errungenschaften werden beibehalten, Subventionen gibt es nicht mehr flächendeckend, nur noch für besonders Bedürftige. Trotzdem ist der Vorgang kein kleiner Ideologiewechsel, es geht durchaus um einen grundsätzlichen Umbau, um Änderung eines bisherigen Gesellschaftsmodells, das nicht nur in Kuba für sozialistisch gehalten wurde.

Die Riege der alten gestandenen Männer hatte nach 1989 mit moralischem und historischem Entsetzen registriert, wie in der Sowjetunion aus Direktoren der Kombinate oder anderen „Kadern“ die neuen Kapitalisten hervorgingen. Das wäre – nicht nur nach dem Verständnis derer, die vor mehr als 50 Jahren die Revolution gemacht haben – Verrat am Kampf ganzer Generationen. „Die Planung und nicht der freie Markt ist das entscheidende Kriterium der Wirtschaft, und die Konzentration von Eigentum wird“ – so die Leitlinien der Wirtschafts- und Sozialpolitik, die derzeit im Vorgriff auf den VI. Parteitag der KP im April überall diskutiert werden – „nicht gestattet.“

Waltraud Hagen ist Journalistin und Autorin einer Fidel-Castro-Biografie

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