Vielleicht wird man nie erfahren, wie es wirklich war. Zeugenaussagen widersprechen sich fast immer, nicht nur in Kriminalromanen. Und aus den unterschiedlichen Wahrnehmungen lässt sich selbst im unmittelbaren Anschluss an eine Tat nur mühsam das treffende Bild zusammensetzen. Wie erst, wenn das nach fast vier Jahrzehnten versucht wird?
Am 23. Mai 2011 frühmorgens begeben sich sieben chilenische und fünf internationale Forensiker zum Zentralfriedhof in Santiago. Um 7.30 Uhr beginnt die Exhumierung der Reste Salvador Allendes. Unter den Ausländern ist der Spanier Francisco Etxeberría. Für ihn, der seit sechs Jahren an der Identifizierung von Opfern der chilenischen Militärjunta teilnimmt – er hat 2009 die sterblichen Überreste des chilenischen Sängers Victor Jara untersucht –, ist der Fall Allende ein „besonderer“, denn: „Salvador Allende war der legitime Präsident eines Landes, in dem sich ein Staatsstreich und eine brutale Militärdiktatur ereigneten.“ Die Anordnung zur Exhumierung erging durch das Berufungsgericht von Santiago – federführender Richter ist Mario Carroza.
Dieser Präsident, der im Herbst 1970 als Kandidat der Linksallianz Unidad Popular in Chile die Wahlen gewonnen hatte, starb während des Putsches chilenischer Militärs am 11. September 1973. An jenem Tag wurde der Regierungspalast Moneda von der Armee umstellt, beschossen und aus der Luft bombardiert. An Allende erging die Forderung, sich zu ergeben. Der lehnte das Ultimatum ab und versuchte, sich mit wenigen Anhängern im Palast zu verteidigen. „Ich werde nicht zurücktreten! In eine historische Übergangssituation gestellt, bezahle ich die Loyalität des Volkes mit meinem Leben ...“, sagte er in den Morgenstunden dieses 11. September über den letzten freien Rundfunksender Radio Magellanes. Worte, die lange Zeit die These von der Ermordung stützten.
Mission erfüllt
Zwei seiner Ärzte traten hingegen stets als Fast-Zeugen eines Selbstmords in Erscheinung. Der eine, Oscar Soto, berief sich später auf die Schilderung eines der Leibwächter Allendes. Der andere, Patricio Guijón, berichtete, es nahezu miterlebt zu haben. Allende habe sich, nachdem er allen Mitarbeitern befohlen hatte, sich zu ergeben, in einen Salon zurückgezogen. Er, Guijón, sei noch einmal zurückgelaufen und habe dabei den toten Präsidenten gesehen, die Gehirnmasse überall verspritzt, zwischen den Knien das Maschinengewehr, das der Chilene einst von Fidel Castro geschenkt bekommen hatte.
2008 wiederum stieß der Gerichtsmediziner Luis Ravanal auf einen forensischen Bericht, nach welchem es mindestens zwei verschiedene Kugeln gegeben haben muss. „Das Austrittsloch“, besagt seine Analyse, „stimmt nicht mit der Kugel aus einer Kriegswaffe überein“. Das wiederum nährte die dritte Variante, der Präsident habe sich nur verletzt und dann von einem seiner Leute den Gnadenschuss erhalten.
Inzwischen hat Esteban Bucat Oviedo, Direktor des Studienzentrums für Demokratie und Bürgerverteidigung, ein neues Dokument veröffentlicht, in dem es heißt, Offiziere der Infanterieschule seien für den Mord verantwortlich gewesen. Danach soll ein Hauptmann Garrido Allende erschossen haben: „Eine Kugel drang auf der rechten Gesichtsseite ein, nahe der Nase, unter dem Auge. Andere gingen in die Brust und den Magen.(...) Der Präsident fällt (...), der Leutnant René Riveros nähert sich dem Körper und gibt ihm den Rest“. Außerdem zitiert Bucat den verantwortlichen General Palacios mit folgenden Worten: „Als ich näher trat, um ihn zu identifizieren, trug er einen Helm und eine Gasmaske ...“ Der General, der in jenem Moment auch auf den Arzt Guijón gestoßen war, meldete danach nur lakonisch an Pinochet: „Mission erfüllt. Moneda eingenommen. Präsident tot.“
Wie oft man auch die Varianten durchgeht, Zweifel bleiben bei jeder. Genährt etwa durch die Hast der Militärs, die Leiche per Hubschrauber in das 130 Kilometer von Santiago entfernte Viña del Mar zu bringen und sie dort, ohne dass irgendjemand – nicht einmal die Ehefrau – sie sehen darf, überstürzt zu beerdigen. Oder durch die seltsame Erklärung Guijóns, dass er – immerhin in einem Augenblick nicht nur größter Gefahr, sondern tragischster Ereignisse – zurückgelaufen sei, um für seine Kinder eine Gasmaske als Souvenir zu holen und dabei den toten Präsidenten gesehen habe. Oder durch die Frage, wie sich jemand Kopf und Gehirn wegschießen kann, der danach noch Helm und Gasmaske trägt? Richter Carroza hat inzwischen zumindest bestätigen können, dass es sich bei den exhumierten Resten wirklich um Allende handelt. Auch, dass alle Knochenreste komplett seien. Das ist zu betonen, denn der Leichnam war 1990 schon einmal ausgegraben und nach Santiago überführt worden, seinerzeit eine der ersten Amtshandlungen der demokratischen Regierung nach der Diktatur. Zu einer gerichtlichen Untersuchung der wirklichen Todesursache konnte sich seither aber keine Exekutive durchringen. Genauso wenig wie zu einer nicht von Vorurteilen getrübten Aufarbeitung jener drei Jahre Allende-Regierung.
In Santiago gibt es zwar inzwischen ein Allende-Denkmal vor der Moneda, neu ist auch ein Museum der Erinnerung, aber eine öffentliche Debatte über den vom Sozialisten Allende eingeleiteten sozialen Umbruch hat nie stattgefunden. Entsprechend sind Reaktionen der Bevölkerung auf die Exhumierung: „Jetzt bezahlen wir dafür, die historische Neugier des Herrn Carroza zu befriedigen“, heißt es bei Bloggern. Oder: „Der Alte ist tot. Jetzt lohnt es sich nicht mehr, Verantwortliche zu suchen“. Oder: „Er hinterließ ein Land in Ruinen.“
Verschmähtes Vermächtnis
Dass Allende per Votum an den Wahlurnen einen demokratischen Sozialismus anstrebte und die verfassungsmäßigen bürgerlichen Freiheiten für jedermann garantierte, ist für viele Chilenen heute kein Thema. Ebenso wenig, dass ihm das chilenische Bürgertum und die USA – allen voran der damalige Präsident Richard Nixon und dessen damaliger Sicherheitsberater Henry Kissinger – in den Arm fielen; nicht nur um „die Wirtschaft zum Knirschen zu bringen“, sondern um ihn zu stürzen.
Dem Richter Mario Carroza liegen derzeit 726 Klagen wegen Menschenrechtsverletzungen während der Diktatur (1973–1990)vor – der Fall des Salvador Allende gehört dazu. Dieser bürgerliche Arzt mit sozialem Gewissen – klug, gebildet, selbstsicher – war ein entschlossener, sehr bewusster Sisyphus, der viermal – 1952, 1958, 1964 und 1979 – um das Präsidentenamt kämpfte und dabei eine Vorstellung von Demokratie und Freiheit für alle Schichten vertrat, die den Begriff Sozialismus hätte revolutionieren können. Vielleicht wird in Chile endlich eine Debatte darüber möglich, wenn alle Spekulationen über die Todesursache ausgeräumt sind und die juristische Wahrheit schließlich die historische erlaubt. Zunächst einmal aber sind die Gutachten abzuwarten.
Waltraud Hagen hat zuletzt für den Freitag über Kuba berichtet
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