Nur das Leben schmerzt tödlich

WILD Der autobiographische Lebensbericht von Emmy Ball-Hennings

Endlich wurde das 1920 erschienene Buch "Das Brandmal. Ein Tagebuch" von Emmy Ball-Hennings neu aufgelegt. Die als exzentrische Dadaistin bekannt gewordene Autorin legt darin auf schonungslose Weise die Innensicht einer Prostituierten offen, die trotz aller widrigen Umstände an das Glück glaubt. Heute erlaubt die Quellenlage zu sagen, was immer vermutet wurde: Es sind Emmy Ball-Hennings eigene Erfahrungen, die in diesem Buch literarisch verarbeitet sind.

Eine junge Frau kommt Anfang des Jahrhunderts mittellos in Köln an. Zuvor war sie Schauspielerin, aber ihre Truppe hatte sich aufgelöst. Um nicht gänzlich zu verhungern wird sie Hausiererin für Duftsteine, "Blühende Wiesen im Winter." Solange zumindest, bis sie erkennt, dass sie den Käuferinnen nur ein Versprechen aufschwatzt, das nicht eingehalten wird. Ihr nächster Schritt führt sie in die Prostitution, wo Schein und Wirklichkeit noch vielschichtiger sind. Sie hält es einen Winter lang aus. Danach sucht sie sich wieder Engagements in Theater und Varieté, spielt monatelang und überall in Deutschland "Köln bei Nacht" und trifft erneut nur auf eine verlogene Wirklichkeit. "150 Mark im Monat lasse ich mir für den Schwindel zahlen. Ich habe, was man zum Leben braucht, wenn auch mit schlechtem Gewissen. Meine Gedankenwelt ist durch dies Engagement eigenartig verschoben worden. Mir ist, als sei ich auf der Straße reiner gewesen."

Schauspielerin, Sängerin, Hausiererin, Dienstmädchen, Lyrikerin, Fotografin, Mystikerin, Nachlassverwalterin, Fabrikarbeiterin, Künstlermodell, Reisende, Märchenerzählerin, Kabarettistin und - was eben lange schon vermutet wird -, um nicht gänzlich zu verhungern, manchmal auch ›Gunstgewerblerin‹ war Emmy Ball-Hennings. Aus allen Konventionen und Lebensentwürfen, die für eine Frau aus ärmlichen Verhältnissen zu Anfang des Jahrhunderts galten, fiel die 1885 geborene heraus. Sie heiratete früh und wurde früh geschieden, sie hatte ein Kind ohne Mann, sie wanderte durch Deutschland, sang an den schlechtesten Theatern des Landes, war im Gefängnis - und sie war bekannt dafür, dass sie jederzeit ihre Engagements brach. Später fand sie ihre geistigen Weggefährten in der Berliner und der Münchner Bohème. Sie kannte viele Künstler und Künstlerinnen: Else Lasker-Schüler, Erich Mühsam, Georg Heym, Johannes R. Becher, Ferdinand Hardekopf, Hermann Hesse. Mit etlichen hatte sie ihr Techtelmechtel. Anderen widmete sie ihre Gedichte. Im "Simplicissimus" in München traf sie den Mann ihres Lebens: Hugo Ball. Mit ihm flüchtete sie als Kriegsgegnerin während des Ersten Weltkrieges in die Schweiz, gründete zusammen mit anderen das Cabaret Voltaire in Zürich und zog kurze Zeit später mit dem zum Katholizismus bekehrten Ball ins Tessin. Sehr arm verbrachte sie dort die meiste Zeit bis zu ihrem Tode 1948.

"Das Brandmal. Ein Tagebuch" wurde bei seinem Erscheinen als die Geschichte einer Frau beschrieben, die auf der Suche nach Gott ist. Da die Autorin den bezahlten Beischlaf nie als solchen benennt, sondern sich in Metaphern oder in Referenzen an ein "Nachher" flüchtet, ist es leicht, sich in den lyrischen Bildern zu verlieren. Nötigung, Vergewaltigung, Ungerechtigkeit werden durch das Innenleben der Ich-Erzählerin transparent gemacht. Emmy Ball-Hennings aber ist nicht Maria Magdalena, sondern eine Maskierungskünstlerin. Das Credo ihrer Protagonistin - "Es lebe der wilde Gott." - hätte aufhorchen lassen können.

Das Recht auf Glück, nach dem die Ich-Erzählerin in "Das Brandmal" sucht und das sich wie ein roter Faden durch den Text zieht, ist nicht die Entsagung, sondern die Mensch werdung. Emmy Ball-Hennings - als Autorin und Hauptfigur - fordert diese nicht als Geschenk von Gott, sondern vom Menschen an den Menschen. Damit zwingt sie zu einer radikalen Sicht auf die Gesellschaft, in der eine Prostituierte - wie auch eine Kabarettistin zu Anfang des Jahrhunderts - zum gesellschaftlichen Abschaum zählte. Da die Lebensechtheit des Berichtes nie wirklich Zweifel daran gelassen hat, dass Emmy Ball-Hennings kennt, was sie beschreibt, konfrontiert sie sowohl auf der fiktiven als auch der realen Handlungsebene mit Unvereinbarkeiten: Eine Prostituierte als moralische Lehrmeisterin und Schriftstellerin? Wenig verwunderlich kam an dieser Stelle in Rezensionen die Metapher zum Zuge: Wenn die Gefallene sich Gott zuwendet, können die Kritiker aufatmen. Da wurde ein Fazit wie das Folgende gerne ignoriert: "Es gibt keine Freiheit. Auch Gott ist ein Gefängnis, in das ich eingehen muss, denn wo sollte ich sonst hin? Es gibt keine Ausflucht. Entfliehen kann niemand. Weder auf der Erde noch im Himmel."

Emmy Hennings mischt in all ihren Büchern Biografisches und Fiktives. Als Künstlerin nämlich war sie in der ›wirklichen‹ Welt genauso zu Hause wie in der imaginierten. Da ihre Protagonisten in der Regel eher zu den gesellschaftlichen Minderheiten gehören -Prostituierte, Zigeuner, unangepasste Frauen, Gefangene, Künstler, Arme, Kriegsgegner, Heilige - erreicht sie mit ihrem literarischen Vorgehen, dass deren Sicht auf die Welt gehört wird. Ihr freimütiger Umgang mit Realität und Fiktion ist jedoch Quelle weiterer Irritationen: Vieles, was man von ihr weiß, ist ihren Büchern entnommen. Da sie es aber, wie sie selbst zugibt, mit der Wahrheit nicht so genau nahm - um, was selten gesagt wird, sozialen, politischen oder poetischen Ideen den Vorrang zu geben - kann trotz allem bis heute nur teilweise bestimmt werden, was im Leben von Emmy Hennings selbst wirklich und was von ihr selbst erdacht war.

Emmy Hennings: Das Brandmal. Ein Tagebuch. Mit einem Nachwort von Erika Süllwold. Frankfurt a.M.. Suhrkamp Taschenbuch. 294 S., 17,80 DM

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