Exit aber wie?

Exit-Strategie Wie lautet die Exitstrategie der politisch Verantwortlichen? Es herrscht ein fundamentaler Streit um die richtige Vorgehensweise.

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Aus meiner Sicht gibt es aktuell 2 Denkschulen:

  1. Fortführung des Lock-downs ohne jegliche weitere Lockerungen bis die Zahl der Neuinfektionen auf ca. 300 pro Tag gesunken ist. Das bedeutet im Übrigen eine Reproduktionsrate R von 0,2 – 0,3. Dann nämlich so die Behauptung könnte man die Infektionskette der Neuinfizierten zurückverfolgen und durch rigorose Quarantänemaßnahmen die Weiterinfektion verhindern. Diese Vorgehensweise soll solange beibehalten werden, bis ein Impfstoff gefunden ist. Folgende Voraussetzungen müssen dabei erfüllt sein:
  • Es muss eine tracing App zur Verfügung stehen, die es derzeit noch nicht gibt und die ein Großteil der Bevölkerung (ca. 2/3) auf ihr Smartphone auf freiwilliger Basis herunterladen muss. Erst jetzt hat man sich darauf geeinigt, dass eine dezentrale Lösung zum Einsatz kommen soll.
  • Die Kapazitäten der Gesundheitsämter müssen drastisch erhöht werden. Die Personen gibt es auch noch nicht.
  • Die Tests für die per App identifizierten Personen müssen zeitnah zur Verfügung gestellt werden und die betreffenden Personen müssen sich zu den Tests auch tatsächlich einfinden.
  • Sämtliche Kontaktpersonen werden 14 Tage in Quarantäne geschickt.

2. Schrittweise Lockerung des Lock-downs, um u.a. festzustellen, welche Maßnahme wirkt bzw. welche nicht wirkt. Zur Reproduktionsrate R wird nur so viel gesagt, dass sie maximal bei 1 liegen sollte, möglichst darunter. Derzeit liegt sie wohl bei 0,76 (Stand 30.04.2020)

Stellungnahme

  1. Zu der Ermittlung der Reproduktionsrate habe ich in meinem Blog „Macht der Zahlen – (Ohn)Macht der Politik“ ausführlich Stellung bezogen. Betonen möchte ich, dass die vom RKI und wohl auch vom Helmholtz-Zentrum ermittelte Zahl sich aus ausschließlich auf Zahl der Neuinfizierten innerhalb eines bestimmten Zeitraums (2x4Tage) bezieht, obwohl jedermann wissen sollte, dass diese Zahl nicht richtig sein kann, weil die Dunkelziffer, also die Zahl der Infizierten, die nicht erkannt werden ca. um den Faktor 10 höher liegt. Damit kann auch die Zahl der Neuinfizierten nicht korrekt sein.
  2. Nachdem entscheidende Voraussetzungen bei dem Modell 1 noch nicht einmal vorliegen, kann auch nicht gesagt werden, wie lange dieser rigorose Lock-down anhalten soll.
  3. Die Tracing-App, die in den nächsten Wochen kommen soll, wird auch keine Lösung bringen. Nach wie vor muss eine Person auf Covid 19 positiv getestet werden. Was ist mit denjenigen Personen, die zwar infiziert sind, aber keine Symptome zeigen und was ist mit denjenigen, die Symptome haben, sich aber nicht testen lassen, weil sie im Falle einer positiven Testung nicht hinnehmen wollen, dass sie und ihr komplettes Umfeld unter Quarantäne gestellt werden. Bis heute weiß man auch nicht, wie lange und wie eng ein Kontakt sein muss, um eine andere Person zu infizieren und was ist, wenn die betreffende Person zum Zeitpunkt des Kontaktes eine Maske getragen hat. Wer verdient eigentlich an dieser App?
  4. Deutschland als Exportnation Nr. 1 lebt von seinen Außenkontakten. Wie soll das Virus lt. Modell 1 eingedämmt werden, wenn nicht gleichzeitig die Grenzen komplett geschlossen werden bzw. jeder getestet wird, der Deutschland betritt.
  5. Die Reproduktionsrate ist nicht nur wegen die falschen Datenbasis (Zahl der Neuinfizierten) fehlerhaft, sie hat auch keinerlei Aussagekraft auf das Infektionsgeschehen vor Ort. Eine bundesweite Reproduktionsrate von beispielsweise 0,5 bringt überhaupt nichts, wenn an einem Hotspot die Reproduktionsrate beispielsweise bei 10 liegt.
  6. Nun hat sich ja im Nachhinein herausgestellt, dass die bundesweite Reproduktionsrate am 20.03. bei knapp unter 1 lag und sich R seitdem an der 1-Linie entlangbewegt. Daraus müsste man schließen, wenn man die Kennziffer ernst nehmen würde, dass der am 23.03 beschlossene Lock-down überhaupt nichts gebracht hat. Das RKI sagt nun, dass die alleinige Focussierung auf diese Zahl nicht viel weiterhilft, auf der politischen Ebene wird aber mit dieser Zahl munter weiter argumentiert, wenn ich mir die Stellungnahmen von BKin Merkel und Herrn Lauterbach genauer betrachte.
  7. Gleichwohl ist jetzt festzustellen, dass selbst die Hardliner unter den Ministerpräsidenten – in vorderster Front M. Söder – klammheimlich zurückrudern, weil sie natürlich erkannt haben, dass diese Vorgehensweise nicht durchhaltbar ist, weder wirtschaftlich noch psychosozial. Auch Merkel wird sich dieser Meinung anschließen und sollte sich dennoch eine Verschlechterung der ominösen Rate R einstellen, hätte sie ja schließlich vorher eindrücklich davor gewarnt.
  8. Nach wie vor vermisse ich die wissenschaftliche Untermauerung beider Vorgehensweisen, die sich zumindest an den bisher gewonnenen Erkenntnissen orientiert.
  9. Wir wissen durch die Streek-Studie, dass die Sterblichkeit bei ca. 0,37% liegt. Das ist natürlich ein Durchschnittswert, der nichts darüber aussagt, was passiert, wenn das Virus beispielsweise in einem Pflegeheim ausbricht. Wir wissen, dass die Virendosis, die ein Infizierter abbekommt entscheidend ist für den Krankheitsverlauf bzw. den Schweregrad der Infektion. Wir wissen, dass vorerkranke Personen eine weitaus höhere Sterblichkeit aufweisen. Wir wissen, dass Kinder weitaus weniger infiziert sind und wir vermuten, dass sie mit dem Virus weit weniger Personen infizieren als andere Personengruppen. Das kann aber nicht dazu führen, dass wir – wie von Boris Palmer vorgeschlagen – eine Risikodifferenzierung vornehmen und alte bzw. vorerkrankte Personen quasi einsperren, während junge und nicht vorerkrankte Menschen sich relativ frei bewegen können. Das ist nicht nur menschenverachtend sondern auch rechtswidrig.
  10. Derzeit sind ca. 40% der Behandlungskapazitäten für die Covid 19-Behandlung frei. Das entspricht ca. 13.000 freien Intensivbetten. Die Überlastung des Gesundheitssystems war zu keinem Zeitpunkt gegeben, obwohl Engpässe in der Beschaffung von Schutzausrüstung bestanden haben und noch bestehen. Gleichzeit werden Operationen verschoben, Chemotherapien nicht durchgeführt und Risikopatienten trauen sich nicht sich behandeln zu lassen.
  11. Nachdem die 1. Welle der Infektion deutlich niedriger ausfiel als befürchtet, stehen wir angeblich vor der 2. Welle, die umso schlimmer ausfallen wird, wenn die Reproduktionszahl nicht auf die Zielmarke von 0,2 gesenkt wird. Mit anderen Worten, diejenigen, die den Teufel an die Wand gemalt haben, sagen jetzt, er ist wohl nicht erschienen, aber er hat sich nur gut versteckt.
  12. Nach wie vor wird die Zahl der Genesenen überhaupt nicht in die weiteren Überlegungen miteinbezogen. Dabei könnte man, wenn man denn logisch nachdenkt, dazu kommen, dass in dem Moment, wo die Zahl der Neugenesenen die Zahl der Neuinfizierten übersteigt es zwingend zu einem Abflauen der Epidemie kommen muss. Stattdessen regiert die Angst, die aufoktroyierten Schuldgefühle, die Bestrafungslogik, die Grundrechtseinschränkungen und nicht zu vergessen das politische Kalkül derjenigen, die ihren Honig aus der aktuellen Situation ziehen.

Fazit

  1. Die Bundesregierung hat sich in eine Sackgasse hineinmanövriert. Der Rat der Experten ist vielstimmig und variiert je nach Fachrichtung extrem. Die Epidemiologen wollen in ihrer Mehrheit die Reproduktionsrate weiter senken und den Lock-down weiter fortführen, sagen aber nicht wie lange. Sie warnen vor einer 2. Welle, die dann noch verheerendere Auswirkungen hätte als die erste Welle. Diese Experten drücken sich jedoch vor den zu treffenden politischen Entscheidungen, dies sei schließlich nicht ihr Metier, sagen aber gleichzeitig, dass es verantwortungslos wäre, anders zu handeln. Ich nenne das „wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht nass“.
  2. Das RKI reklamiert jetzt wieder die so genannte Herdenimmunität, wonach ca. 2/3 der Bevölkerung infiziert sein muss, um die Epidemie zum Stillstand zu bringen. Das macht das Chaos perfekt.
  3. Von den Wirtschaftsverbänden kommt die massive Forderung, weitere Lockerungen in Angriff zu nehmen und auch einen Zeitplan vorzulegen. Dieses Szenario spiegelt sich auch bei den Ministerpräsidenten der Länder wider, die zwangläufig andere Interessen verfolgen, je nach Ausgangslage des in ihrem Land vorherrschenden Infektionsgeschehens.
  4. Ein Ausgleich zwischen den beiden Lagern erscheint nicht mehr möglich. Also verkauft man die faulen Kompromisse als Erfolgsmeldung. Bislang hat sich das noch nicht in den Umfragewerten für die Union niedergeschlagen. Die Stimmung in der Bevölkerung droht aber zu kippen, weil die wirtschaftliche und psychosoziale Situation immer prekärer wird.
  5. BK Merkel hat schon von jeher eine eher abwartende Position eingenommen, so wie sie auch jetzt bis zum 10.05 abwarten will, um weitere Lockerungen zu verkünden. Jetzt rächt es sich auch, dass die politisch Verantwortlichen keinen Schimmer davon haben, welche Maßnahmen wirken und welche nicht. Der Erkenntniswert einer schrittweisen Lockerung ist gleich Null, also konzentriert man sich weiter auf die Macht der Zahlen, die aber auch nur eine sehr begrenzte Aussagekraft haben, weil die Datenbasis mehr als lückenhaft ist.
Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
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