Eine Bibel für die Kritiker des Wachstums

Die Buchmacher Die Degrowth-Bewegung hat immer mehr Anhänger. Jetzt gibt es ein neues Standardwerk für sie
Ausgabe 08/2016

Es ist aus der Geschichte der Menschheit keine Gesellschaft bekannt, die kollektiv beschlossen hat, künftig mit weniger auszukommen. Wir wachsen oder wir scheitern – das gilt als Grundbedingung unserer ökonomischen Existenz und markiert die Grenzen des Vorstellungsvermögens. Letzteres zu erweitern, dazu sind die drei Ökonomen Giacomo D’Alisa, Frederico Demaria und Giorgos Kallis von der Autonomen Universität Barcelona angetreten; unter anderem im Freitag (9/2015) publizierten sie einen 10-Punkte-Plan für die Zukunft Europas in Zeiten des Postwachstums. Nun erscheint ihr Buch Degrowth. Handbuch einer neuen Ära auf Deutsch. Der Anspruch der drei Herausgeber ist alles andere als bescheiden: Ihr Buch soll zum „internationalen Standardwerk“ der Postwachstumsbewegung werden. Das könnte durchaus gelingen.

Denn auf den knapp 300 Seiten geht es nicht, wie bisher zu oft in diesem Diskurs, um kleinteilige, technische Kritik an Bruttoinlandsprodukt und Profiteuren der Wachstumsfixierung in den Großkonzernen. Sondern um gesellschaftstheoretische Alternativen, wie es anders gehen könnte als heute. Zahlreiche konkrete Ansätze zu benennen, Schnittmengen aufzuzeigen und einen Kanon des wuchernden Spektrums der Wachstumskritik zu schaffen – das ist das größte Verdienst des Werks, zu dem namhafte Autoren wie Niko Paech, Serge Latouche und Tim Jackson Texte beigetragen haben. Alle Autoren eint der Wille zu einer Neudefinition gesellschaftlichen Wohlstands.

Dieser gründet heute ausschließlich auf der Re-Investition des Überschusses in neue Produktion. Postwachstum aber steht für kollektive Investitionen im öffentlichen Raum, derweil sich das Individuum in Mäßigung übt. Da bricht freilich die größte Konfliktlinie zum herrschenden Status quo auf: Moderne Gesellschaften zeichnet ja gerade aus, dass sie nicht mehr gemeinsam bestimmen wollen und müssen, was ein gutes Leben ist: „Das muss jeder selbst wissen.“ Doch was nach Freiheit klingt, ist der Anfang des Übels, wie folgendes Gedankenexperiment von John Rawls zeigt: Wenn wir uns eine Gesellschaft vorstellen, aber nicht wüssten, welcher soziale Status uns in die-ser zufällt, dann würden wir allen Menschen prinzipiell mehr als weniger Ressourcen zuteilen. Es könnte ja uns selbst treffen. Mehr ist also stets bes-ser als weniger. Ob es um Bildung, Gesundheit oder Nahrung geht: Unsere Lebensführung ist auf die Akkumulation von Ressourcen fixiert, die dann die Grundlagen des Daseins verknappt und ökologische Katastrophen wie globale Verteilungskämpfe stiftet.

Natürlich ist nicht jedes Wachstum per se schlecht: Technischer Fortschritt, geht es etwa um die Heilung und Vorbeugung von Krankheiten, kann essenziell sein. Doch das ist kein Argument gegen eine systematische Wachstumskritik. Steigerung wird dort zum Problem, wo Freiheit in Zwang umschlägt. In der Konkurrenz um Standorte und Kapital sehen viele Unternehmen Wachstum als einzige Alternative. Und in rationalisierten Beschäftigungsverhältnissen müssen Menschen ihr Humankapital erhöhen und innovativer als ihre Mitstreiter sein. Das schafft nicht nur permanent neue Bedürfnisse, sondern fördert auch Abstiegsängste.

Mit der Lektüre eines Buchs kann man Ängste natürlich nur bedingt bekämpfen. Wo sich ansetzen ließe, lässt sich jedoch vermitteln. Die Titel der einzelnen Kapitel geben es schon mal vor: von A wie Alternativwährung bis Z wie ziviler Ungehorsam.

Info

Degrowth. Handbuch für eine neue Ära Giacomo D’Alisa u.a. Kollektiv Druck-Reif (Übers.), oekom-Verlag 2016, 272 S., 25 €, erscheint am 14. März

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Geschrieben von

Jonas Weyrosta

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