Gewerkschaft von gestern

Freitag-Salon Warum die Mitgliedszahlen der großen Gewerkschaften weiter sinken werden. Die richtigen Antworten darauf bleiben aus. Gedanken zum Freitag-Salon mit Frank Bsirske

Die Notwendigkeit von Gewerkschaften ist eigentlich unstrittig. Die unterschiedlichen Interessen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern müssen ausgehandelt werden. Dieses Problem ist alt und immerwährend. Der neue Mindestlohn ist Beweis dafür, dass auf gewerkschaftliche Forderungen, Reaktionen seitens der Politik folgen. Die Ausnahmeregelungen des Mindestlohns zeigen aber auch, dass es weiteren Verhandlungsbedarf gibt. Das ist die eine Seite der Medaille.

Auf der anderen Seite steht die Einführung des Mindestlohns auch für die eklatante Schwäche der Gewerkschaftsverbände. Es war nötig, Mindestlöhne einzuführen, weil der gewerkschaftliche Organisationsgrad vieler Unternehmen ständig abnimmt und die Stärke der großen Gewerkschaften kontinuierlich sinkt. Die mediale Wahrnehmung von Gewerkschaftsarbeit bezieht sich in zunehmendem Maße auf Branchengewerkschaften wie die GDL, die im vergangenen Jahr zu massiven Streiks der Lokführer aufrief. Um den DGB, immerhin einer der größten Gewerkschaftsverbände Europas blieb es dagegen ruhig. Das führt zum Kern der Debatte um ein notwendiges neues Image der großen Gewerkschaftsverbände.

Wie der Freitag-Salon mit Frank Bsirske und Jakob Augstein deutlich machte, baut Ver.di ihr Selbstverständnis gegenwärtig auf der Beschäftigung mit den Folgen der Agenda 2010 auf. Bsirskes Rekurs auf die Rot-grüne Koalition und die Flexibilisierung der Arbeitsverhältnisse greift als Erklärung für die sinkenden Mitgliederzahlen bei Ver.di allerdings zu kurz. Die permanente Entsicherung der Menschen trägt im Wesentlichen zu der Angst vor Jobverlust bei Arbeitnehmern bei, was sich auch in der geringen gewerkschaftlichen Aktivität niederschlägt. Soweit ist die Analyse von Ver.di zutreffend. Wer sich fürchtet, seine Stelle zu verlieren, geht nicht sofort zum Betriebsrat. Wem vermittelt wird, er solle froh sein, überhaupt einen Job zu haben, macht sich nur sehr selten für Lohnsteigerungen stark.

Wohin dieses ständige Risikoempfinden bei den Arbeitnehmern führen kann, zeigt der Weltkonzern Amazon. Amazon weigere sich kategorisch, das Recht der Beschäftigten auf einen Tarifvertrag anzuerkennen und hält Gewerkschaften offenbar für überflüssig, so Ver.di-Bundesvorstandsmitglied Stefanie Nutzenberger. Dennoch bleiben Solidaritätserklärungen aus der Arbeitnehmerschaft anderer Branchen aus. Das führt erneut zu der Frage: Wenn die Menschen aus Angst vor Jobverlust, Gewerkschaftsarbeit meiden, müssen die Gewerkschaften neue Antworten finden, ihre Existenzberechtigung unter Beweis zu stellen. Es reicht dabei nicht, wie im Falle Bsirskes, bei einer Zustandsbeschreibung seit Rot-Grün stehen zu bleiben und zu bemängeln, dass die Masse der Arbeitnehmer sich nicht mehr in der Verantwortung sieht, für Arbeitnehmerrechte einzustehen.

In Zeiten, in denen berufliche Selbst-Optimierung und Effizienzstreben kein rein äußerlicher Anspruch an die Arbeitenden mehr ist, sondern internalisierte Werte sind, müssen sich die Gewerkschaften fragen, welche Argumente es noch für kollektive Interessensicherung gibt. Schließlich individualisiert das Risikoempfinden und der Beschleunigungsdruck die Arbeitenden eher, als dass er sie zusammenschweißt. Der Philosoph Byung Chul-Han spricht von Psychopolitik. Es geht nicht mehr darum, den Knecht vor dem Herren zu schützen, der Herr ist längst in die Knechte übergegangen und wurde verinnerlicht. Dahinter steht die Einsicht, dass die Freiheit und der Wunsch nach Selbstbestimmung in Zwang und Unterwerfung umschlagen kann. Daraus entsteht ein Zerrbild: Jedem steht es zu, den Job zu wechseln, wenn er mit den Bedingungen unzufrieden ist. Der berufliche Werdegang liegt in den Händen jedes Einzelnen. Der Soziologe Ulrich Bröckling spricht vom "Unternehmerischen Selbst".

Damit ist auch jeder selbst für den möglichen Verlust seiner Arbeitsstelle verantwortlich. Wer sich nicht dem Leistungsdruck unterwirft, ist als Arbeitskraft grundsätzlich ersetzbar. Die Verunsicherung der Arbeitenden erklärt die Angst, sich gewerkschaftlich zu organisieren. Gewerkschaftsarbeit steht scheinbar dem Optimieren des Arbeitnehmerpotenzials entgegen. Dieser Zustand ist an sich schon paradox. Die Regierung steuert in diesem Jahr auf einen ausgeglichenen Haushalt zu, in Deutschland erleben wir gegenwärtig nahezu Vollbeschäftigung. Die statistische Vollbeschäftigung umfasst jedoch auch die neuen Formen der Arbeit, die Rot-Grün auf den Weg brachte. Kurzzeitjobs, Leiharbeit – Kurz: Risikojobs. Offenbar muss der Arbeiter heute vor dem eigenen Effizienzstreben geschützt werden. Wenn die Unterscheidung zwischen Knecht und Herr veraltet ist, muss der Arbeiter vor sich selbst geschützt werden. Das funktioniert nicht mehr über kollektive Interessenvertretung.

Die Gewerkschaften müssen in die Diskussion über eine neue Arbeitskultur eintreten. Der Mindestlohn ist ein erster Schritt. Debatten über die 20-Stunden-Wochen, Job-Sharing etc. müssen auch von den Gewerkschaften geführt werden. So wie wir sie kennen, gehören sie einer anderen Zeit an. Die Arbeitsverhältnisse waren langfristiger, persönlicher und historisch gewachsen. Diese Zeit ist vorbei und darauf müssen auch die Gewerkschaften endlich reagieren.

Hinweis: In einer früheren Version des Textes waren Mitgliederzahlen der DGB-Gewerkschaften aufgeführt. Diese waren jedoch teilweise falsch und wurden daher gelöscht.

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Geschrieben von

Jonas Weyrosta

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