Studierende und Besserverdienende mögen die Zeit haben, sich in Repair-Cafés und solidarischen Gartenprojekten für eine Welt ohne Wachstumszwang und Umweltzerstörung zu engagieren. Wie aber soll das eine alleinerziehende Kassiererin schaffen?
Ist die Postwachstumsbewegung nicht nur ein elitäres Projekt? Ist sie blind für die soziale Frage? Und was hat der Rechtspopulismus mit dem Wachstumszwang zu tun? Solchen Fragen gehen die Soziologin Silke van Dyk und ihr Kollegium am Forschungskolleg Postwachstumsgesellschaften der Universität Jena nach, das als führende Denkfabrik der Wachstumskritik gilt.
der Freitag: Frau van Dyk, warum müssen wir schrumpfen?
Silke van Dyk: Postwachstum ist etwas anderes als wirtschaftliche Schrumpfung oder eine Rezession. Es geht darum, die gängigen Indikatoren für Wohlstand in Frage zu stellen, ohne davon auszugehen, dass wirklich alles schrumpfen muss. Es braucht eine differenzierte Auseinandersetzung damit, was mehr, was weniger werden soll.
Und?
Soziale Dienstleistungen und Sorgetätigkeiten sollten weiterwachsen, hier haben wir nicht zu viel, sondern zu wenig. In der fossilen Energieproduktion ist es besonders wichtig, dass wir schrumpfen. Die Frage ist, wo kann es gelingen, aus den Wachstumszwängen des Kapitalismus auszusteigen. Er ist ein System, das allein, um stabil zu bleiben, auf permanente Steigerung angelegt ist. Hier liegt das Problem: Alles Wirtschaften schließt Stoff- und Energietransformationen ein – das kann in einer Welt mit begrenzten Ressourcen nicht unbegrenzt funktionieren. Und die Effizienzversprechen eines grünen Kapitalismus sind vollkommen illusorisch.
Zur Person
Silke van Dyk, 44, wurde an den Universitäten Göttingen und Helsinki zur Diplom-Sozialwirtin ausgebildet und promovierte 2005 in Soziologie an der Universität Kassel. Seit 2016 ist sie Professorin für Politische Soziologie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Ihr Schwerpunkt liegt auf der Soziologie des Alters in der Aktivgesellschaft und der Transformation des modernen Wohlfahrtsstaates. Sie ist assoziiertes Mitglied des Forschungskollegs Postwachstumsgesellschaften
Geht es also um die Überwindung des Kapitalismus?
Die Ansätze sind sehr heterogen. Es gibt konservative Wachstumskritiker, die wollen gar nichts überwinden, hier geht es vor allem um individuellen Verzicht und einen Abbau des Sozialstaats. Der Großteil hingegen verortet sich eher im ebenfalls heterogenen linken Spektrum, hier geht es stärker um Gleichheit und Umverteilung. Während die Grenzen des Wachstums und die ökologische Krise weitgehend unstrittig sind, variiert der Stellenwert der sozialen Frage beträchtlich, von der Systemfrage ganz zu schweigen.
Klingt so eine starke Bewegung?
Es gibt eben noch erheblichen Aushandlungsbedarf. Und dabei sollte es nicht darum gehen, die ökologische Krise auf Kosten der sozialen Frage zu adressieren. Das Problem ist real: Wenn wir uns eine Umverteilungspolitik vorstellen, etwa durch Erbschafts-, Vermögens- und progressive Einkommenssteuer, würde das wohl zu einer steigenden Nachfrage der unteren Einkommensklassen führen. Also zu Wachstum. Die Konsumquote bei Menschen mit wenig Geld ist einfach höher. Eine Politik, die auf Umverteilung und mehr soziale Gleichheit setzt, löst zunächst also wohl Wachstumsschübe aus.
Schließen sich Umverteilung und radikale Wachstumskritik aus?
Darüber gibt es Streit und der Zusammenhang ist komplex, denn es gibt auch Hinweise darauf, dass sehr starke Ungleichheit Wachstum hemmt. Unabhängig davon bin ich überzeugt, dass wir durch Umverteilung erzeugtes situatives Wachstum in Kauf nehmen müssen: Eine Gesellschaft der Ähnlichen ist eine wesentliche Voraussetzung für eine Kultur des Weniger. Wenn die Lebensbedingungen ähnlicher werden, können wir besser darüber diskutieren, inwiefern auch weniger für alle denkbar ist.
Viele Postwachstumsprojekte finden in akademischen Milieus statt. Vieles davon klingt elitär.
Es gibt tatsächlich eine Klassendistinktion in diesen Projekten. Interessant ist: Die in Deutschland, die sich am ökologischsten gerieren, haben oft den größten ökologischen Fußabdruck. Ein Hartz-IV-Empfänger verkörpert nicht den ökologisch bewussten Lebensstil, hat dennoch einen vergleichsweise geringen Fußabdruck gegenüber denen mit Öko-Haus und Manufactum-Möbeln. Studien zeigen, dass die Grünen-Wählerinnen und -Wähler das Fliegen am problematischsten finden, aber verglichen mit den Wählern der anderen Parteien die höchste Flugquote haben.
Scheinheilige Linke?
So weit möchte ich gar nicht gehen. Wir dürfen aber die materiellen Grundlagen nicht einfach vergessen: Zeit und Geld sind zentral für das Engagement in Alternativprojekten. Wer kann es sich denn leisten, seine Arbeitskraft ohne Bezahlung zu investieren? Viele Projekte basieren auf Selbstausbeutung der Leute, die dort engagiert sind und hypen eine Art Tätigkeitsgesellschaft jenseits der Lohnarbeit. Eine alleinerziehende Mutter, die Vollzeit an der Supermarktkasse arbeitet, wird sich aber nicht nach der Arbeit noch in einem Sharing-Projekt engagieren können.
Repair-Cafés, Kleidertausch und solidarisches Gärtnern sind also auch keine Lösungen?
Mit Sicherheit nicht für alles. Das sind keine wirklichen Auswege aus der Wachstumsfalle. Gleichwohl sind sie wichtig, denn hier kann sich Widerstand und Protest gegen ökonomische Ordnungen formen. Problematisch wird es nur immer dann, wenn diese Mikro-Projekte aufaddiert werden, als könne man daraus eine konsistente Makroökonomie des Postwachstums basteln. Verzicht ist aber keine Systemalternative. Klar, es ist super für den Ressourcenverbrauch, wenn Leute Autos teilen oder Gegenstände reparieren, aber das durchbricht ja nicht automatisch die Steigerungslogik im Kapitalismus.
Weil uns diese Logik längst durchdrungen hat?
Es gibt neben den strukturellen Steigerungszwängen auch eine kulturelle Logik des Wachsens. Die übersetzt sich in die Lebensweisen und -stile der Subjekte, die in diesen Kontexten sozialisiert werden. Das vollzieht sich nicht hinter dem Rücken der Menschen, sondern geht mitten durch sie hindurch. Eine Postwachstumsperspektive muss immer auch fragen, warum wir immer mehr haben wollen.
Und damit trifft es eben doch auch die Kassiererin und den Hartz-IV-Empfänger.
Natürlich, es betrifft uns alle. Deshalb müssen wir die soziale Frage neu denken: Die hohen Wachstumsraten der Nachkriegsjahrzehnte, als aus den erwirtschafteten Überschüssen verteilt wurde und der soziale Aufstieg die Antwort auf Ungleichheit war, sind passé. Darum führen alle nostalgischen Ideen einer Rückkehr in die satten fordistischen Jahre in die Irre. In einer Ökonomie, die nicht mehr oder nur noch gering wächst – und Letzteres ist in den Ländern des globalen Nordens längst Realität –, braucht es radikale Umverteilung. Ob und wie die durchzusetzen ist, ist eine ganz andere Frage.
Statt um Umverteilung kreisen Debatten um „das gute Leben“.
Eine vermeintliche subjektive Lebenszufriedenheit anzuführen, um ein materielles Weniger zu legitimieren, ist eine sehr problematische Stoßrichtung. Immer wieder ist auch in Postwachstumsdebatten die Rede von glücklicheren Menschen in ärmeren Ländern. Mit Blick auf die eklatanten Ungleichheiten müsste man aber erst fragen: Was ist die materielle Basis für alle? Dann können wir gemeinsam über das gute Leben jenseits materieller Ressourcen sprechen.
Also: radikale Umverteilung?
Wir erleben doch bereits eine krasse Umverteilung, aber zugunsten der Kapital- und zulasten der Lohneinkommen. Das ist verbunden mit dem Paradigmenwechsel des Wohlfahrtsstaates, der weniger darauf zielt, durch soziale Sicherheit, Arbeitsstandards und Sozialpolitik Nachfrage zu schaffen, sondern eher die Produktions- und Angebotsbedingungen der Unternehmen verbessert. Durch den neoliberalen Umbau ist es zwar nicht gelungen, die alten Wachstumsraten zu restaurieren, wohl aber die Profitraten – und zwar durch eine Umverteilung von unten nach oben, durch die Ermöglichung von Spekulationen auf den Finanzmärkten und die Flexibilisierung des Arbeitsmarktes.
Von dadurch erzeugter Abstiegsangst zehren heute die Rechten. Durchaus auch mit wachstumskritischen Positionen.
Ich halte wenig von der Auslegung, diese Wende nach rechts sei eine ökonomische Notwehr derer, die im Neoliberalismus deklassiert wurden und die jetzt von rechter Seite erhört wurden. Zum einen spielen auch rassistische, sexistische Positionen eine zentrale Rolle und zum anderen verfolgen weder Donald Trump noch die AfD eine neoliberalismuskritische Politik. Und was das Wachstum angeht: Die gegenwärtig erstarkenden Rechtspopulisten sind durch die Bank wachstumsorientiert. Das „Make America great again“ von Trump spielt mit der Idee einer Rückkehr zum Wachstumsboom des fossilen Industriekapitalismus der Nachkriegsjahrzehnte, mit seiner zentralen Figur des weißen, männlichen Industriearbeiters.
Trotzdem: Haben die Linken die soziale Frage vergessen?
So pauschal lässt sich das schwer sagen. Geraume Zeit haben andere gesellschaftliche Widersprüche mehr Aufmerksamkeit erhalten als die Klassenfrage. Ihre Wiederentdeckung darf nun nicht darauf hinauslaufen, Sexismus, Rassismus oder Chauvinismus wieder zu Nebenwidersprüchen zu erklären.
Wie kann eine linke Antwort auf Abstiegsängste aussehen?
Ein linksnationales Wachstumsprojekt à la Sahra Wagenknecht mit starken Grenzen nach außen und Solidarität nach innen kann es nicht sein. Das ist kein emanzipatorisches Projekt und ökologisch fatal ist es auch. Das ist doch aktuell das Problem: Linke Kräfte, mit denen man sich für ein erfolgreiches Postwachstumsprojekt verbinden müsste, schwenken hin zur Renationalisierung der sozialen Frage und setzen auf Wachstum. Zugleich sehe ich auf Seiten der Postwachstumskräfte das Problem, dass die vielen guten Ideen bisweilen zu wenig an reale Kräfteverhältnisse und notwendige Strategien für soziale Kämpfe rückgebunden werden. Wenn wir darüber nicht endlich diskutieren, werden die Debatten stets etwas esoterisch bleiben und neben den sozialen Kämpfen liegen, die in der Gesellschaft geführt werden.
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.