Und ob sie’s kann

Porträt Kai Wargalla ist Landesvorsitzende der Bremer Grünen. Seit sie gegen Obama vor Gericht gewonnen hat, ist ihr Verhältnis zur Machtpolitik entspannt
Ausgabe 08/2016
„Ich brauche Kontakt zu den Menschen da draußen“
„Ich brauche Kontakt zu den Menschen da draußen“

Foto: Tine Casper für der Freitag

Sie ist spät dran. Kai Wargalla schließt ihr Fahrrad vor einem Café in der Bremer Neustadt an, die langen, blau gefärbten Haare sind vom Wind zerzaust. Zur Begrüßung reicht sie mir beide Hände, die Schicht bei Alnatura habe wieder mal länger gedauert, entschuldigt sie sich, mit großen, wachen Augen schaut sie mich an. Kai Wargalla hat den Ort vorgeschlagen, das Café liegt in einer Gegend, die früher als unpopulär galt und jetzt immer mehr Leute anzieht. Es gibt veganes Essen, natürlich, Wargalla ist Veganerin.

Im Januar hat die 31-Jährige den Parteivorsitz der Grünen in Bremen übernommen. Sie wolle vorerst weiter in Teilzeit im Biosupermarkt arbeiten, sagt sie gleich. „Ich brauche den Kontakt zu den Menschen da draußen.“ Wargalla sitzt an der Kasse und will von dort aus das Unternehmen umkrempeln: erst in der Bremer Filiale einen Betriebsrat gründen, später auch einen Gesamtbetriebsrat. Bei den Kolleginnen und Kollegen wurde sie wegen ihres Engagements schnell bekannt, von der Geschäftsführung kam Gegenwind. Kunden schreiben ihr E-Mails, wenn sie länger nicht im Markt gesehen wird, aus Sorge, ihr könnte gekündigt worden sein. „Wer heute 50 Jahre alt ist und vielleicht ungelernt, hat Angst, seinen Job zu verlieren, wenn er sich politisch engagiert. Diese Furcht treibt die Leute um“, sagt Wargalla. Sie selbst habe nichts zu verlieren, sie könne kämpfen. Kai Wargalla tut das jetzt lieber im Kleinen, nicht mehr gegen übermächtige Gegner wie Barack Obama, US-amerikanische Gerichtshöfe oder den globalen Kapitalismus.

Assange, Snowden, Manning

Weltweit stand Kai Wargalla in den ersten Reihen politischer Protestbewegungen. Während eines Auslandssemesters in London gründete sie 2011 Occupy London, wobei gründen in diesem Fall bedeutete, einen Twitter-Account anzulegen. Wenige Tage später demonstrierten mehr als 6.000 Menschen vor der St. Paul’s Cathedral in Londons Innenstadt. Auf den Schildern, die sie trugen, stand „Against Capitalism“ und „Global Democracy now“. Sie alle waren inspiriert von den Protesten des Arabischen Frühlings, sie wünschten sich einen solchen Aufbruch auch für Europa. Kai Wargalla kündigte ihre kleine Wohnung, unterbrach ihr Studium und zogfür ein Jahr in ein Zelt in der Londoner City. Über Nacht entstand dort eine kleine Zeltstadt mit offenen Küchen und freiem Internet für alle. „Plötzlich war ich also Vollzeitaktivistin“, sagt sie mit monotoner Stimme. Dann lehnt sie sich zurück und lacht plötzlich laut und einnehmend, als müsste sie sich Platz schaffen oder ihr Gegenüber von ihrer Darstellung überzeugen.

Das alles fiel in die Zeit von Wikileaks und den Aufruhr um das „Collateral Murder“-Video. Wikileaks-Gründer Julian Assange wurde weltweit gesucht und versteckte sich schließlich in einem Botschaftsgebäude in London. In New York wurde Occupy Wall Street immer größer, und in Washington begann die Gerichtsverhandlung gegen Chelsea Manning, die vertrauliche Dokumente des US-Militärs an Wikileaks weitergeleitet hatte.

Kai Wargalla flog mit Freunden aus der Londoner Zeltstadt nach New York. Zu Tausenden demonstrierten sie vor der Börse. Außerdem trat sie als Nebenklägerin gegen die US-Regierung auf. Es ging um einen heiklen Abschnitt im „National Defense Authorization Act“, einem Bundesgesetz zur Landesverteidigung. Es sollte erlauben, verdächtige Personen ohne Angabe von Gründen verhaften zu lassen und an einen unbekannten Ort zu bringen. Wargalla schaffte es im Kreuzverhör von Obamas Anwälten, den Prozess in erster Instanz für sich zu entscheiden. Sie befürchtete, unter dieses Gesetz zu fallen, Occupy London stand neben Al-Qaida und FARC auf der britischen Terrorliste. Um in der zweiten Instanz zu gewinnen, hätte sie persönlichen Schaden nachweisen müssen, das konnte sie nicht.

Kai Wargalla redet und redet, sie lässt sich kaum unterbrechen, wenn sie in den alten Zeiten schwelgt. Assange, Snowden, Manning – es sind ihre Helden. „Die wussten, sie würden wohl den Rest ihres Lebens nicht mehr frei sein und haben trotzdem so gehandelt. Aus Überzeugung.“ Solche Menschen bewundere sie, „die so viel Kälte und Gegenwind abbekommen,aber immer noch so viel Liebe für die Menschheit übrig haben. Das muss doch auch unser Antrieb sein.“ To face hardship, sich den Härten des Lebens stellenmanchmal fallen ihr nur englische Wörter ein, um zu erklären, was sie fühlt. Mehrmals klopft sie mit der Faust auf ihre Oberschenkel, als müsste sie ihre Anerkennung noch besiegeln. Wenn sie vom politischen Straßenkampf redet, klingt es wie ein nicht enden wollendes Abenteuer: große Ideen und ständig neue Leute, die sie teilten. Oft fangen ihre Sätze mit Ich an. Ich war Teil der Weltpolitik, ich war Teil der Geschichte. Und nun muss Kai Wargalla Bremer Landwirte von der Agrarwende überzeugen.

Auf einmal entstehen Pausen in ihren Sätzen, wenn sie über die Zukunft Bremens reden soll. Ihre Tage verbringt sie jetzt mit kleinteiliger Parteiarbeit, in endlosen Gremiensitzungen. „Für mich ist das die gleiche Arbeit, nur die Wege sind anders“, sagt sie. Ob Unterkünfte für Geflüchtete, Agrarwende oder die leidige Auseinandersetzung mit der AfD – es gehe jetzt nicht mehr nur um Protest, sondern man müsse auch Antworten finden. Sie finde solche Themen genauso spannend wie die Besetzung öffentlicher Räume. Vielleicht muss sie sich das selber immer wieder sagen.

Eine nachhaltige Biografie

Kai-Lena Wargalla ist 1984 im niedersächsischen Achim geboren und in Bremen-Huchting aufgewachsen. Nach dem Abitur studierte sie in Marburg und London, wo sie die Occupy-London-Bewegung gründete und den Wikileaks-Gründer Julian Assange unterstützte. Wargalla demonstrierte auch bei Occupy Wall Street in New York und verklagte die US-amerikanische Regierung wegen eines Terrorismusgesetzes.

Im Januar 2016 wurde Kai Wargalla neben Ralph Saxe zur neuen Landesvorsitzenden der Bremer Grünen gewählt. An deren Spitze beschäftigt sie sich heute vor allem mit nachhaltiger Wirtschaft und Ethik, mit Netzpolitik, Datenschutz und schwul-lesbischen Themen. Bremen wird seit 2007 von einer rot-grünen Koalition regiert. Die Grünen verloren bei der vergangenen Landtagswahl 2015 rund sieben Prozent, woraufhin die damalige Landesvorsitzende Henrike Müller einen Generationenwandel ein-leitete. In ihrer letzten Rede warnte Henrike Müller die Grünen davor, in die politische Mitte abzurutschen. Auch die Quereinsteigerin Wargalla steht für eine explizit linke Politik, den sogenannten Mainstream lehnt sie ab.

Weil die „Alternative für Deutschland“ bei der letzten Bremer Landeswahl rund fünf Prozent holte und damit erstmals in die Bürgerschaft einzog, setzt sich Wargalla auch mit Rechtspopulisten auseinander – „man muss mit ihnen sprechen“, sagt sie. Neben ihrem Parteiamt und der Arbeit an der Kasse im Biosupermarkt Alnatura macht Kai Wargalla zurzeit ihren Master-Abschluss in Sustainability Economics and Management an der Uni-versität Oldenburg. Jonas Weyrosta

Ein Sonnabend im Februar. Kai Wargalla eröffnet den Bremer Freifunk-Kongress, der in einer hohen, kalten Halle im Martinshof stattfindet, dem Gebäude eines Bremer Sozialverbands. Es wirkt wie bei einem Klassentreffen, lauter junge Leute sind gekommen, die ein Freifunknetz für kostenfreies Internet in Bremen aufbauen wollen. Vor allem Männer sitzen auf den schwarz-roten Stühlen, ihre Blicke permanent auf Smartphone und Laptop gerichtet. Auf den Namensschildern steht nur der Vorname, man ist sofort beim Du. Kai Wargalla tritt als erste Rednerin auf die Bühne. „Ich bin auch ein Kind des Internets“, begrüßt sie die Teilnehmer. Es soll an diesem Nachmittag vor allem um eines gehen: das Netz und die Migration. Vor allem Menschen in Flüchtlingsunterkünften bräuchten freies Internet, um mit Angehörigen in der Heimat kommunizieren zu können. Dafür klettern die Freifunker auch auf die Dächer der Stadt und installieren Sender.

Müllhalden für Sexismus

Im Sekundentakt feuern die Internetaktivisten, die hier in der ersten Reihe sitzen, Tweets über die Veranstaltung raus. Und deren Statements sind eingängig: Internet als Grundrecht, Internet als Integrationsmaßnahme. Netzpolitik trifft Asylpolitik. Wargalla twittert mit, in den sozialen Medien ist sie zu Hause. „Vegan, queer, straight edge“, beschreibt sie sich selbst auf Twitter. Sie sagt, es gehe ihr dabei um eine Haltung, das Private sei für sie immer auch politisch. Was wirkt wie ein Label, das sie sich selber geben möchte, ist für Wargalla eher Selbstbeschreibung und politisches Programm. Ernährung, Klimawandel, Agrarwende, alles hänge zusammen. Auch der Begriff „queer“ vermittle eine klare Botschaft. Jedes Politikfeld prüft Wargalla auf Geschlechterfragen, im Moment vorrangig, wenn es um Flüchtlinge geht: Wer kümmert sich um die trans- oder homosexuellen Menschen, die geflohen sind? Im Moment bedeutet das konkret, dass Wargalla sich für die Finanzierung eines landesweiten Aktionsplans gegen Trans- und Homophobie starkmacht.

Gepierct, gefärbte Haare, immer nur in Schwarz gekleidet – wegen ihres Aussehens bekommt sie Hasskommentare auf Twitter, „Heute schon ein Kind gefickt?“, zum Beispiel. Einschüchtern lasse sie sich davon nicht, sagt Kai Wargalla, gerade Frauen dienten ja immer wieder als Müllhalde für mittelalterliche und sexistische Parolen. Aber kann sie das wirklich von sich fernhalten? Verletzt das nicht? Sie lese alles, sagt sie, aber es betreffe sie ja nicht persönlich. In die Öffentlichkeit geht sie damit trotzdem. In einer Fernsehsendung redete Wargalla über die Anfeindungen. Anschließend erreichten sie viele private Nachrichten von betroffenen Frauen, das hat sie bestärkt. In Momenten wie diesen wisse sie, wofür sie das mache. Solche Momente sind seltener geworden, und manchmal zeigt sich Kai Wargalla selbst überrascht davon, dass sie inzwischen Parteipolitikerin ist. Parteien fand sie immer langweilig.

Als sie 2012 aus London zurückkam, besuchte sie verschiedene politische Gruppen in Bremen. Sie traf Leute, die ihre Sicht auf die Welt teilen, unter anderem bei den Grünen. Als sie dann vergangenes Jahr gefragt wurde, ob sie sich zur Wahl stellen möchte, zögerte sie erst, „obwohl das Gefühl eigentlich stimmte“. Die Grünen kennt sie seit ihrer Kindheit. Schon damals ging es am Frühstückstisch um Atommüll und Gifte in alten Schiffswracks. Ihre Mutter Elisabeth Wargalla war lange Zeit Abgeordnete für die Grünen in der Bremer Bürgerschaft. Aber das sei noch eine andere Partei gewesen, sagt Wargalla.

Damals ging es um Anti-Atomkraft und die Friedensbewegung. Man zeigte klare Kante für Umwelt und Frieden. Heute vermisse sie eine erkennbar grüne Haltung im Bund, besonders in der Flüchtlingsfrage. Wargalla fürchtet die Realo-Politik eines Winfried Kretschmann. Was in Baden-Württemberg als grün verstanden werde, sei ihr einfach zu konservativ – näher erklärt sie die Problematik nicht. „Wir müssen nicht Grenzen, sondern Menschen schützen“, lautet einer ihrer Slogans, ein Markenzeichen aus ihrer Aktivistenzeit. In einfachen, kurzen Sätzen müssen Inhalte transportiert werden. Klare Kante zeigen“ und „gegen den Mainstream“ sein, an solchen Leitsätzen hält sich Wargalla fest. Sie wolle sich nicht verändern, sagt sie. Sollte ihr Profil irgendwann nicht mehr zu den Wählern passen, dann sei sie eben weg. „Es geht hier ja nicht um mich. Macht ist nicht mein Ding.“

Live bei den Linken

Start cooking, recipe will follow, fangt schon mal mit Kochen an, Rezept folgt – so hat es der Musiker Brian Eno bei der Eröffnungssitzung von DiEM 25 mit Yanis Varoufakis formuliert. Wargalla ist dafür nach Berlin gereist, leider war die Veranstaltung schon ausverkauft. Wargalla musste auf den Livestream im Hauptstadtbüro der Linken ausweichen. Neben Varoufakis stand an diesem Abend auch eine Aktivistin von Blockupy Deutschland auf der Bühne. Das hätte sie sein können, die Wargalla von früher.

Am nächsten Tag ging sie noch zu einem Blockupy-Deutschland-Treffen. Mitglieder haben einen offenen Brief an Varoufakis geschrieben, er solle mit seiner Initiative nicht die aktiven Bewegungen schwächen. Daraufhin erschien Varoufakis bei einem der Blockupy-Treffen und setzte sich in die hinterste Reihe. „Er hat einfach zugehört“, sagt Kai Wargalla, die auch hier dabei war. „Varoufakis war nicht der Star, sondern einer von uns.“ Es klingt, als sähe sie darin ihre neue Rolle als Politikerin. Immer irgendwie eine von der Basis bleiben. Vielleicht wird das ja ihr größter Kampf.

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Geschrieben von

Jonas Weyrosta

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