Türkei: Noch ist nichts entschieden

Weltlich oder islamisch? Mit der Vernichtung der Gülen-Bewegung verliert der politische Islam in der Türkei an Bedeutung. Das nützt den Kemalisten und anderen säkularen Kräften

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Vom Verbündeten zum Todfeind: Fethullah Gülen und Recep Tayyib Erdogan
Vom Verbündeten zum Todfeind: Fethullah Gülen und Recep Tayyib Erdogan

Foto: OZAN KOSE/AFP/Getty Images)

Was zuvor geschah

Recep Tayyib Erdogan und Fethullah Gülen trafen vermutlich schon Ende der 90er Jahre sehr diskrete Verabredungen. Da gab es die AKP noch nicht. Erdogan machte damals Karriere in der konservativen islamischen Refah-Partei. Gülen wie Erdogan traten schon damals mit demokratiefernen Bekenntnissen auf, als Brüder im Geiste.

2001 gründete Erdogan mit weiteren Politikern, die aus verschiedenen Parteien stammten, die AKP. Die neue Partei lehnte zunächst Politik auf weltanschaulicher Basis ab und stellte offiziell keine Forderungen auf der Grundlage des Islam. Das verschaffte ihr schon bald die Zustimmung auch laizistischer Kräfte. Erdogan erschien vielen als Modernisierer, der nur augenzwinkernd auf islamischem Ticket unterwegs war.

Bei der Parlamentswahl 2002 erreichte die AKP mit 34,26 Prozent der Stimmen aus dem Stand heraus die absolute Mehrheit der Sitze. Dass auch die Bruderschaft Gülens mit an Bord war, wurde kaum wahrgenommen.

Netzwerk der Gülen-Bruderschaft
Die Bewegung des konservativen Predigers Fethullah Gülen ("Wer sich vom Islam abwendet, begeht Hochverrat, die Strafe dafür ist der Tod") hatte unter Erdogans Regierungen schon bald Schlüsselpositionen in wichtigen Bereichen und Einrichtungen des türkischen Staatsapparats eingenommen. Zweifellos mit Erdogans Zustimmung im Bildungswesen, in der Justiz, im Exekutivorgan des staatlichen Gewaltmonopols, der Polizei, im Geheimdienst MIT. Später auch in quasi allen Bereichen der Streitkräfte.

Die Gülen-Bewegung gründete eigene sehr einflussreiche Medienhäuser, TV-Anstalten, die Tageszeitung Zaman wurde das meistgelesene Blatt in der Türkei.
Zur Gülen-Bewegung gehören bis heute zahlreiche Unternehmen, viele Institutionen sind von ihm beeinflusst.
Eine nur schwer einzuschätzende Zahl von Gülen-Anhängern traten schon bald nach der Regierungsübernahme der AKP bei. Es dürften zehntausende sein. Viele übernahmen sehr rasch Regierungsämter.

Dank tausender eigener Schulen und weiterführenden Bildungseinrichtungen in der Türkei (und in über 100 anderen Ländern) sorgte die Gülen-Bewegung für besser ausgebildeten Nachwuchs in quasi allen Bereichen des türkischen Staatswesens.

Was Gülen und Erdogan eint: beiden geht und ging es um die Überwindung des Laizismus (genauer: des Kemalismus, also der Ideen Atatürks) in der Türkei. Zugunsten eines konservativen Islam.

2013 kam es zum Zerwürfnis. Erdogan und Gülen waren in Konflikt geraten über die künftige Aufteilung der Macht. Außerdem hatte Erdogan erkannt, dass Gülens Einfluss auf den Staat kaum mehr zu stoppen sei, wenn er nicht rasch und drastisch bekämpft werde.

Traditionelle Schlüsselrolle des Militärs
Das türkische Militär nimmt seit Atatürk eine Schlüsselrolle in der türkischen Politik ein und sieht sich seit jeher als letztlich entscheidende politische - kemalistische - Instanz.

Wer hat den Putsch vereitelt?

Am 15. Juli 2016 dann der Putschversuch, allem Anschein nach vorbereitet von Gülen-Anhängern innerhalb der Streitkräfte, der Gendarmerie und der Polizei. Waren es wirklich einige Hundert Widerständige, die sich auf einer Bosporusbrücke gegen einige Panzer aufbauten und so den Putsch vereitelten?

Alles spricht dafür, dass es eher die säkularen (kemalistischen) Kräfte im Militär waren, die dem Staatsstreich der islamistischen Gülen-Sekte nicht folgten wollten und ihm ein rasches Ende bereiteten, nach wenigen Stunden.

"Säuberungen" stärken säkulare Kräfte
Mit seinen massiven "Säuberungsaktionen" gegen die Anhänger Gülens verringert Erdogan den Einfluss konservativer islamischer Kräfte auf den Staat. Denn Gülens Bruderschaft dürfte die bestorganisierte islamische Bewegung im Lande gewesen sein. Sie verkörperte den gebildeteren Teil des politischen Islam.
Erdogan säubert jetzt staatliche, gesellschaftliche Institutionen und die Wirtschaft von Gülen-Anhängern. Das kommt Kemalisten und anderen Säkularen entgegen.

Opposition innerhalb der AKP?
Die AKP ist eine junge Partei, schon bald nach ihrer Gründung wuchs sie zu einer Massenpartei mit fein verästelten Strukturen. Über ein dafür erforderliches Netzwerk verfügte damals aber allein die Gülen-Bewegung. Auch sie waren Mitgründer der AKP und besetzten in der neuen Partei von Anfang an Schlüsselpositionen. Den Einfluss de Gülen-Leute innerhalb der Regierungspartei ist schwer einzuschätzen. Auch ihnen galt das Todesstrafe-Geschrei in den letzten Wochen.
Wird Erdogan eine neue Partei gründen müssen?

Außenpolitisches Desaster

Weder die USA noch die EU sehen in der AKP-Regierung heutiger Verfassung einen seriösen Gesprächspartner. Eine Regierung, die Europa und die USA etwa deshalb beschimpft, weil sie nicht eindeutig genug den Putschversuch verurteilt haben.

Es ist möglich, dass die Wirtschaftsbeziehungen zum Schaden der Türkei leiden werden. Wegen ihres Handelsbilanzdefizits braucht das Land immer neue Investitionen aus dem Ausland. Die sind rückläufig, die Türkei gilt als nicht mehr sicher. Der türkischen Großindustrie, die während der letzten Dekade dank neoliberaler Wirtschaftspolitik stark zugelegt hat, schadet die aggressive Außenpolitik Erdogans.

"Säuberungen"
Mit der Gülen-Bruderschaft bekämpft Erdogan eine der einflussreichsten politisch-islamischen Bewegungen in der Türkei. Einst strategisch eng mit der Gülen-Bruderschaft verbunden, "säubert" er sie nun aus dem Staatswesen heraus und wird sie streng bestrafen.

Über Wochen ließ Erdogan nach dem Putschversuch Anhänger religiöser Sekten für Massenversammlungen der AKP mobilisieren. Während einiger dieser Kundgebungen bildeten diese bärtigen Männer in weißen Gewändern den hartern Kern, sie gehörten zu den Allahu Akbar-Rufern, die auch die Todesstrafe forderten. Auch so sollen Gülen-Anhänger überall im Land eingeschüchtert werden.

Mit deren Niederschlagung, immer neuen Enthüllungen über ihr Einsickern in die wichtigsten Institutionen, über deren Wirtschaftskraft, ihre stille Macht ist der politische Islam insgesamt in der Türkei diskreditiert.
Ohne seinen auch im Nahen Osten einflussreichen Partner Gülen und dessen Bruderschaft musste Erdogan sich in den letzten Jahren politisch neu positionieren. Selbst Muslimbrüder aller Länder, früher gefeierte Gäste auf Parteitagen der AKP, können ihn nicht mehr stützen, mangels Macht.

Was macht die Opposition?

Erdogan hielt es unmittelbar nach dem Putsch für nötig, auf einen Teil der Oppositionsparteien zuzugehen, vor allem auf die kemalistische Traditionspartei CHP, eine im weitesten Sinne sozialdemokratische Partei, Mitglied der Sozialistischen Internationale.
Hat Erdogan erkannt, dass die nach wie vor tief in der Gesellschaft verankerten Kemalisten seinem Islamisierungskurs Grenzen setzen können?
Welches Konzept verfolgt die CHP in dieser politischen Situation? Sie lässt sich zu AKP-Großkundgebungen einladen. CHP-Chef und Oppositionsführer Kemal Kılıçdaroğlu tritt dort als Redner auf, merkwürdig unentschieden und redet dort weder Fisch noch Fleisch, sehr zum Ärger der Basis seiner Partei.

Linksdemokratisch, "prokurdisch", säkular: HDP

Nie eingeladen war die HDP, die linksdemokratische ("prokurdische") Partei. Die ist weder islamisch noch kemalistisch orientiert, sie gewann zuletzt 10,8 Prozent der Stimmen und hat 59 Sitze im Parlament, sie gilt auch nichtkurdischen Linken als Hoffnungsträgerin. Bei den letzten Wahlen entschieden sich viele enttäuschte CHP-Anhänger für die HDP. Die wiederum könnte eine wichtige Vermittlerrolle einnehmen bei der so genannten Kurdenfrage.

Erdogan will ein Verbot der HDP. Das aber kann die CHP nicht wollen, sie braucht die HDP als säkulare Verbündete gegen die weitere Islamisierung des Landes. Werden CHP und HDP über eine Zukunft der Türkei ohne Erdogan reden?

Nichts ist entschieden in der Türkei.

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Geschrieben von

weinsztein

Journalist. Lebt vorwiegend an der türkischen Ägäis. Guckt auf griechische Inseln. Kocht gern.

weinsztein

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