Am Rande der Zeit

Parabel In ihrem neuen Roman "Seebachs schwarze Katzen" geht Kathrin Schmidt in die letzten Jahre der DDR zurück

Mehr denn je darf man jene Zeiten wohl als selig bezeichnen, "für die der Sternenhimmel die Landkarte der gangbaren und zu gehenden Wege ist und deren Wege das Licht der Sterne erhellt" (Georg Lukács). Das waren noch Zeiten, diese seligen Zeiten der Harmonie und der Rundheit, fürchterlich-glückliche Zeiten des Epos, in denen Mensch und Welt noch keines Romans bedurften, der ihnen dieselben - eben Mensch und Welt - erklärte. Der Roman, hat kürzlich erst Carlos Fuentes in einem Vortrag zum Auftakt des Berliner Literaturfestivals bemerkt, ist Produkt und Resultat der Moderne, mithin einer Zeit der Unsicherheit und eines "Raums der Ungewissheit", einer Zeit, die sich selbst rundum problematisch geworden ist.

Und in genau dieser tiefen Spur des Unsicheren und Ungewissen siedelt Kathrin Schmidt ihren neuen Roman an - damit in bester Don Quichottischer Tradition stehend. Ein Bild schiebt sich dabei in den Vordergrund, eine Metapher, die dem Erzähltext seine Signatur gibt, ja, mehr noch, um die herum der ganze Roman gebaut ist: die alte Fettvettel Zeit. Wenn der Rezensent richtig gezählt hat, dann verwendet Schmidt diese Formulierung auf nicht weniger als 22 Seiten - zuerst auf Seite 6, zuletzt dann auf Seite 285.

Ein Blick ins Grimmsche Wörterbuch belehrt uns, dass sich die Vettel, das alte, liederliche Weib, gern mit bezeichnenden Attributen verbindet, "je nach dem Zusammenhang werden Alter, Häßlichkeit, hexenhaftes Aussehen, Unzucht, Geilheit, kupplerisches Wesen, Zanksucht betont oder verschiedene Eigenschaften zusammengestellt". Kein süßes Früchtchen also diese Zeit - nein, schon Thomas Mann, den jetzt der Oberpriester aller Spießerästhetik lang und breit ins Feld führen würde, hat das Bild der Vettel im Josephsroman verschiedentlich bemüht, um ein buhlend-buhlerisches, dabei sexuell abstoßendes weibliches Begehren zu denunzieren.

Bei Kathrin Schmidt "thront" die Fettvettel Zeit über allem, "plustert" sich auf und "genießt" ihre Macht, gibt sich bisweilen der Lust hin, provoziert auch und vermag andererseits dann wieder zu beruhigen. Es ist, so mag man es deuten wollen, das Wesen der Zeit selbst, das als "zundrige, plundrige Alte" uns gegenübertritt. Sie hält uns am Wickel - oder, um mit einem der letzten Sätze des Romans zu reden: "Nichts eilt, wußte die Zeit, die sie alle wiederhatte."

Diesseits aller Metaphysik und Thomas Mannschen Zeitraunens heißt das nun - was? Der neue Roman der mehrfach ausgezeichneten Kathrin Schmidt geht in die letzten Jahre der DDR zurück, um deren Folgen bis in die aktuellen Tage hinein auszuleuchten. Ein Stasi-Spitzel und "womanizer" vor dem Herren und der ergebenen Damenwelt wird enttarnt, und sein Sohn David findet in einem Geheimfach des Vaters Unterlagen, die diese Doppelexistenz des Vaters bezeugen. Die Mutter Lou hatte den Verrat des Mannes irgendwann nicht verwinden können und sich umgebracht, die ausspionierte Zweitfrau Bejla war dann (und daran?) irre geworden. Von Erinnerungen geplagt beschließt der Vater, Bert Willer, mit seinem Sohn, der unter den Erkenntnissen dieser Unterlagen leidet, einen Urlaub auf Teneriffa zu verbringen, wo sich Vater und Sohn - beide zudem an der Reisebekanntschaft Michaela sich sexuell delektierend - noch weiter voneinander entfremden.

Auf diesen ersten Teil mit der abrupten Rückkehr folgt die Geschichte des Paares Harald Hartung und Marlene, die - eine Widergängerin Bejlas - in der Psychiatrie landet, woraufhin dann im dritten Teil die Zusammenführung erfolgt: Am Ende mit einer von Bert (geplanten) Beichte des Vaters gegenüber dem Sohn, der ausreißt, während sich der Vater ins Saarland aufmacht, um die vermisste Bejla/Marlene wiederzusehen. Ende offen. Oder? - Es trifft die Erzählerin nämlich noch auf den Jungen, David, dessen Geschichte "mit einiger Gewalt" über sie kommt." "Ich mußte mich noch am gleichen Abend an meinen Laptop setzen und mit dem Aufschreiben beginnen. Am nächsten Tag sah ich ihn noch einmal, wie er ins Auto von Bodo, dem Grafiker und Buchhersteller, stieg, der ihn mit nach Berlin nehmen wollte."

Kathrin Schmidt versucht den gewagten Spagat, beides zu schreiben: eine Geschichte und eine Parabel dazu. Es ist ihr vorzüglich gelungen, weil sich beides passend ergänzt. Wobei sie noch die Möglichkeiten eines zeitgemäßen Realismus - wir denken dabei an die gute, große Tradition des Verlagshauses Kiepenheuer und Witsch (von den amerikanischen Klassikern Bellow und Malamud über Böll bis zu Wellershoff) - ausprobiert. Mögen dabei auch die Referenzen zunächst klar sein und der Leser sofort glaubt auf dem Posten zu sein, unmerklich verschieben sich dann wieder die Bezüge und Beziehungen. Schmidts Erzählen ist eines nicht der Zeit, sondern recht eigentlich gegen die Zeit und entlang der Erinnerungsspuren mit ihren Rissen und Abgründen; es handelt sich um ein beredtes Erzählen offener Ränder, an denen tote Figuren den geheimnisvollen Mittel- und Bezugspunkt bilden und wo Brüche, Löcher, Rätsel und Lücken, blinde Stellen, Hohlräume, bloß Angedeutetes und Unaufgelöstes unratifiziert stehen bleiben.

Die Lösung gibt es nicht - es passen vielmehr eine ganze Reihe von Antworten auf jenes Rätsel, als das wir - mit Kathrin Schmidts ästhetischem Versuch ebenso wie im wirklichen Leben - die Zeit bezeichnen dürfen.

Kathrin Schmidt: Seebachs schwarze Katzen. Roman. Kiepenheuer und Witsch, Köln, 2005, 288 S., 18,90 EUR


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