Die Leute lügen und betrügen

Rollenspiele Weder Liebe noch Gespräche. Ivan Klimas neue Erzählungen handeln vom Verlust der Leidenschaften

Gleich welches Attribut der Tscheche Ivan Klima seinen soeben in deutscher Sprache erschienenen Erzählungen zuspricht - ob unsentimental oder auch sentimental, ob sonderbar oder gar geheimnisvoll. All diese 15 Geschichten sind einmal mehr Belege dafür, dass beim Thema aller Themen die Attitüde des psychologischen Realismus nicht nur angebracht, sondern geradezu zwingend notwendig erscheint. Dann zumindest, wenn es um die Destruktion des romantischen Liebescodes geht. Dekonstruiert und als Ideologie entlarvt worden ist dieses romantische Ideal längst; jüngst erst hat Dieter Wellershoff wieder in seinem Großessay Der verstörte Eros (2001) die Bilanz aus zweihundert Jahren Liebes- und Ehebruch-Romanen von Goethe bis zu Updike gezogen und dabei minuziös die realistischen Unterminierungen im brüchigen sozialen Kitt herausgestellt.

Nahtlos passen sich die Werke Klimas, Erzählbände und Romane, darunter der grandiose Richter in eigener Sache (1997), und eben jetzt die "Liebesgespräche" hier ein. Dabei geht es weder um die Liebe noch um Gespräche, sondern darum, im Schwadronieren über die schönste und geheimnisvollste, allerdings Lichtjahre vom wirklichen Leben entfernte Sache der Welt deren tatsächlichen Wahnsinn und Schein zu entlarven. Geheimes Zentrum dieses Bandes, nämlich die Mitte, in der sich alle Figuren treffen, ist jene einmal von einer Figur messerscharf formulierte Ansicht: "Die Leute lügen. Auch sie hatte ein Leben in der Lüge als etwas Unausweichliches akzeptiert." Bingo! Die Rollenbücher und Dramaturgien liegen fest, nichts Unerwartetes geschieht, nichts Unvorhergesehenes lenkt die Protagonisten, aber auch uns als Leser ab: das Leben ist ein ebenso langsamer wie langweiliger Fluß, in dem jeder jeden nach Maßen bescheißt, also: mit Vorsatz und Methode belügt und betrügt. Die Menschen kommen jeweils immer nur dann miteinander aus, wenn sie einmal gelernt haben sich zu arrangieren, das heißt nichts mehr zu erwarten und den "worst case" als Alltagsregelfall anzunehmen. Alle sind "zu schwach, zu unentschieden", wie es an anderer Stelle heißt.

So hocken sie dann aufeinander, miteinander, nebeneinander und übertreffen sich in der Inszenierung von Schamlosigkeiten: "Er sah zu, wie sie seinen Pullover über ihren nackten Körper zog. Dann schlüpfte sie durch die Tür, das Telefon stand im anderen Zimmer. - Die Wände waren dünn, er hörte ihre Stimme und wie sie die Nummer wählte, dann hörte er ihre Stimme, die mit einem Mal noch lieblicher klang. ›Bist du schon zu Hause, Liebling? Ich habe gedacht, du bist noch im Krankenhaus. Nein, mir geht es gut, aber bald geht es mir sehr gut, dann bin ich wieder bei dir. Sag, hast du Sehnsucht nach mir gehabt?‹"

Aber da war doch noch etwas? Richtig: Authentizität und Gefühle... Schon die Frage danach ist unkonstruierbar geworden, hat sich in die Unvordenklichkeit verflüchtigt. Klimas Helden - Ärzte und Hochschullehrer, Künstler und andere Intellektuelle - sind allesamt stigmatisiert durch die Erfahrungen im (weiland) ›real existierenden Sozialismus‹, dadurch, dass sie sozialisiert worden sind in einer Gesellschaft permanenter Überwachung und Bespitzelung, wo selbst die Privatwelt keinen wirklichen Rückzugsraum mehr bedeutet. Eine marode Welt, ein kaputtes System, das verkrüppelte Existenzen zurück lässt; Entfremdung rundum und vor allem an höchster Stelle, wenn man - mit Marx und wohl auch sonst völlig zu Recht - den Grad und Stand der Menschheitsentwicklung am Umgang der Geschlechter miteinander abzulesen geneigt ist. Folglich lautet denn auch die bitterste Erkenntnis am Ende der sentimentalen Geschichte Die Träume der Schwachen: "Ihr schien, daß sie so allein war, daß sie nicht einmal mehr etwas hatte, wovon sie träumen könnte."

Bei Dieter Wellershoff bringt sich im Roman Der Liebeswunsch (2000) die romantisch veranlagte Heldin nach ähnlichen Erfahrungen immerhin noch um; Klimas Figuren sind dagegen schon soweit erwachsen, abgebrüht und desillusioniert, dass sie bloß einfach noch weitermachen - ohne Ideale und Ideologien, aber auch ohne wirkliche Leidenschaften, die dann tatsächlich Leiden schaffen könnten.

Ivan Klima: Liebesgespräche. Aus dem Tschechischen von Anja Tippner. Zsolnay-Verlag, Wien 2002., 235 S., 17,90

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