Einsam bist Du sehr alleine

ES GAB KEIN ZIEL, ER FAND DIE RICHTUNG Zum 100. Geburtstag Erich Kästners

Ein Beweis dafür, daß ein großer Mann, ein exzellenter Analytiker und schonungsloser Zeitdiagnostiker auch einmal irren kann. In einer von Klassenkämpfen und Straßenschlachten aufgewühlten Zeit, 1931, veröffentlichte Walter Benjamin seine Besprechung von Erich Kästners drittem Lyrikbändchen Ein Mann gibt Auskunft unter dem Titel »Linke Melancholie« in der Gesellschaft. Benjamin spricht darin von den »linksradikalen Publizisten vom Schlage der Kästner, Mehring oder Tucholsky«, in deren Haß auf »das kleine Bürgertum« er »selbst einen kleinbürgerlichen, allzu intimen Einschlag« erkennt. Er identifiziert eine »Haltung, der überhaupt keine politische Aktion mehr entspricht.« Zwar bescheinigt er vor allem Kästner »eine große Begabung«, hält ihm aber eine deutliche Borniertheit vor, mehr noch, wie es im letzten Satz der harschen Kritik heißt, eine »Dumpfheit«, von der allenfalls noch »Großverdiener« profitieren, »jene traurigen schwerfälligen Puppen, deren Weg über Leichen geht.« So weit, so schlecht.

Seine endgültige Abstrafung durch die Marxisten hat Kästner dann vom in der Regel beeindruckenden, dann aber auch wieder in Einzelurteilen fatal irrenden Georg Lukács erfahren, dessen 1952 erstmals erschienene, häufig wieder aufgelegte Kurze Skizze einer Geschichte der deutschen Literatur Kästner »das Fehlen eines objektiven Welthorizonts« im Blick auf den Roman Fabian vorhält. Und die Reihe ließe sich beliebig verlängern.

Andererseits aber existieren auch solche Zeugnisse wie die kongeniale Besprechung von jenem jungen Autor, der sogleich einen Wahlverwandten im Dresdner Schriftsteller Kästner erkannt hat. Anläßlich der Lyriksammlung von 1929 heißt es: »Was er seinen Lesern (...) gibt, ist ein Ausschnitt aus ihrer Alltagswelt: genau, nüchtern, illusionslos.« Und weiter dann, die Kästnersche Poetik enthüllend: »Jedes Kästnersche Gedicht, man kann nehmen, welches man will, irgendwo hat es diesen ethischen Kern. Weil der ganze Mann ethisch ist. Warum schreibt er? Weil er sieht, die um ihn sind mies und böse, und weil er möchte, daß sie anders würden. Immer der gleiche Impuls.« Hans Fallada wußte sehr genau, worüber er schrieb, handelte es sich bei ihm doch um denselben Schreibimpuls, dieselbe Ethik und Poetik.

Soll, kann, darf man das kleinbürgerlich nennen? Gegenfrage: was ist mit dieser Bezeichnung eigentlich gewonnen? Was erklärt sie? - Kästner ist ein eindeutiger Moralist, ein milder Satiriker, dessen Humor und Ironie das Milieu, aus dem er stammt, das Kleinbürgertum eben, porträtiert, oft in Schutz nimmt, ohne es allerdings zu verklären. Im Gegenteil. Er ist ein später Vertreter der Aufklärung, auf Wirkung und Wirksamkeit bedacht, seine Texte genau kalkulierend, an Elle und Speiche von Wirklichkeit und Moral messend. Als Sohn aus einem kleinen Handwerkerhaushalt - der Vater war Sattlermeister, die Mutter zunächst Hausfrau, später dann noch Friseuse - hat er seine Herkunft nie vergessen, ihr vielmehr mit seinem autobiographischen (Kinder-)Buch Als ich ein kleiner Junge war 1957 ein spätes literarisches Denkmal gesetzt. Ähnlich einem anderen Autor, dessen Anfänge in die Endphase der Weimarer Republik und die Literatur der »Neuen Sachlichkeit« zurückreichen. Wie Erich Maria Remarque, dessen 100. Geburtstag es im letzten Jahr zu gedenken galt, bleibt auch Kästner ein Kleinbürger bis zuletzt, allerdings einer, der durchaus kritisch Verhaltens- und Denkweisen dieser problematischen Schicht gegenübersteht, zugleich aber auch mit der nötigen Distanz gegenüber bourgeoisem Gebaren ausgestattet ist - einer, der zwischen den Stühlen sitzt, aber dort genau beobachtet und beschreibt, einer, der partiell zum Außenseiter, ja Fremden geworden ist, ganz ähnlich der Figur des Fabian aus dem gleichnamigen Roman von 1931, der versucht, im Berlin jener Zeit »zwischen Rummel und Arbeitslosigkeit, zwischen sinnlosen Schießereien unter Arbeitern und Kleinbürgern, zwischen den Redakteuren eines deutschnationalen Generalanzeigers und dem apokalyptischen Katzenjammer einer Berliner Weltstadtredaktion« (Hans Mayer) ein anständiger Mensch, ein Moralist, zu bleiben. Am Ende vergeblich, weil der Nichtschwimmer Fabian beim Versuch, einen Jungen aus einem Kanal zu retten, ertrinkt.

Man kann in vielen Texten Kästners, nicht nur in Gedichten - »Jahrgang 1899« etwa: »Man hat uns zu lange, zu früh und zumeist/ in der Weltgeschichte beschäftigt!« oder auch in »Kurzgefaßter Lebenslauf«: »Zusammenfassend läßt sich etwa sagen:/ Ich kam zur Welt und lebe trotzdem weiter.« -, sondern auch in der Prosa, in den Kinder- und Jugendbüchern ebenso wie im Fabian, verkappte Selbstporträts finden. Das Gedicht, das vielleicht am präzisesten Kästners Welt- wie Kunstverständnis ausdrückt, hat er dem verehrten Kollegen G. E. Lessing gewidmet. Darin schreibt er eingangs: »Das, was er schrieb, war manchmal Dichtung,/ doch um zu dichten, schrieb er nie./ Es gab kein Ziel. Er fand die Richtung./ Er war ein Mann und kein Genie.« Und die vierte und letzte Strophe lautet dann: »Er stand allein und kämpfte ehrlich/ und schlug der Zeit die Fenster ein./ Nichts auf der Welt macht so gefährlich,/ als tapfer und allein zu sein!« Die Namen sind austauschbar, Kästner und Lessing, den Kästner zeitlebens schätzte und über dessen »Hamburgische Dramaturgie« er ursprünglich eine Dissertation geplant hatte. Wie Lessing und das Projekt der Aufklärung möchte nämlich auch Kästner seit seinen ersten Schreibanfängen wirken, das Publikum belehren, also, wie von altersher bekannt, ebenso gefallen wie von Nutzen sein. L'art pour l'art ist nicht seine Sache, angestrengte Metaphorik oder eine Bildungsliteratur ebensowenig. Seine Texte sind eingängig. Seine Lyrik ist, darin dem späten Brecht verwandt, Gebrauchslyrik; er erweist sich als ein begnadeter »Einfühlungsspezialist« (Peter Rühmkorf), der »das tägliche Gesicht der Zeit« (Karl Otten) genau beobachtet und aufgezeichnet hat: mal milde spöttisch, bisweilen aber auch gnadenlos und bitterböse, wenn er beispielsweise auf die Geschlechterverhältnisse zu sprechen kommt. »Man sprach sich aus. Man hat sich ausgeschwiegen.«

Und Kästner - rein äußerlich betrachtet: »Ich kam im Jahre 1899 zur Welt. Mein Vater, der als junger Mann Sattlermeister mit einem eigenen Geschäft gewesen war, arbeitete damals schon, nur noch als Facharbeiter, in einer Kofferfabrik. Als ich etwa sieben Jahre alt war, gab es Streiks in der Stadt. Auf unserer Straße flogen abends Steine in die brennenden Gaslaternen. Das Glas splitterte und klirrte.« Das war 1906; dann der Krieg, zu dem Kästner eingezogen wird. Herzkrank kehrt er zurück; er beginnt, ausgestattet mit einem Stipendium, als Werkstudent ein Studium, das er, bereits zuvor durch zunächst noch journalistische Brotarbeiten immer wieder unterbrochen, mit einer Promotion 1925 abschließt. Ab 1926 arbeitet er als Redakteur und Feuilletonist für die Neue Leipziger Zeitung, ab 1927 ist er freier Mitarbeiter in Berlin u. a. für die Weltbühne, das Tage-Buch, den Montag Morgen und die Vossische Zeitung. 1928 erscheint der Gedichtband Herz auf Taille, und dann läßt er in rascher Folge bis 1933 die Kinderbücher Emil und die Detektive, Pünktchen und Anton, Das fliegende Klassenzimmer, den Roman Fabian, weitere Lyriksammlungen folgen. Er scheint seinen Vorsatz erreicht zu haben, den er einmal seiner über alles geliebten Mutter, seiner engsten Vertrauten auch, in einem Brief vom 26. 12. 1926 folgendermaßen umrissen hat: »Wenn ich 30 Jahr bin, will ich, daß man meinen Namen kennt. Bis 35 will ich anerkannt sein. Bis 40 sogar ein bißchen berühmt.« Sein Programm hat er schon vorher absolviert, denn als tatsächlich berühmter Autor werden die Bücher des 35jährigen verbrannt. »Ich stand«, schreibt Kästner 1946 über sein »gemeinstes Erlebnis«, »vor der Universität, eingekreist zwischen Studenten in SA-Uniform, den Blüten der Nation, sah unsere Bücher in die zuckenden Flammen fliegen und hörte die schmalzigen Tiraden des kleinen abgefeimten Lügners.« Doch trotz Schreibverbot geschieht dem unerwünschten Autor vergleichsweise wenig. Zwei Verhaftungen verlaufen glimpflich. Er kann unterschlüpfen und verdient als Unterhaltungsschriftsteller nicht eben schlecht - unter anderem als Drehbuchautor für den Münchhausen-Film der Nazis, in dem Filmhistoriker den bedeutendsten Beitrag Kästners als Drehbuchschreiber sehen, weil er »geistreich mit allen Klischees der europäischen Geschichte« gespielt habe (Ingo Tornow). Bereits seit dem Ende der Weimarer Republik hat Kästner Erfahrung mit dem Medium Film; darüber hinaus ist er insgesamt ein versierter Medienautor, der die Möglichkeiten der Massenmedien instinktiv zu nutzen verstanden hat. Allerdings: sich gemein gemacht mit den Nazis hat sich Kästner nie, wiewohl er sich, rein äußerlich, angepaßt verhalten hat. Seinem Tagebuch vertraut er sich dagegen an, sieht den Wahnsinn und die Verbrechen um sich herum, notiert Sätze, die ihn an den Galgen gebracht hätten.

Schnell macht Kästner auch nach dem Krieg wieder - ein weiteres Mal - Karriere, zunächst als Feuilletonchef der Neuen Zeitung 1947, als gefeierter Jugendbuchautor während der fünfziger Jahre, als einflußreicher, viel gespielter Verfasser von Kabarett-Texten, ausgezeichnet u. a. mit dem Büchner-Preis 1957, schließlich als engagierter Pazifist, der sich an Mahnwachen beteiligt, als Ostermarschierer auftritt und sich, wo es immer geht, einmischt.

Nur mit einem scheint er zeitlebens Probleme gehabt zu haben: mit der Welt der Frauen. Ob er nun zuviel oder zu wenig verlangt hat, mag dahingestellt bleiben. Übermächtig regiert die Mutter (»Mein liebes, gutes Muttchen, Du!«), läßt dem Sohn keinen Platz neben sich. Stoff für die Psychoanalyse. Jedenfalls hat Kästner, nachdem er frühe Kränkungen erlitten hat und obwohl ihm dann mit Luiselotte Enderle eine Vertraute, Freundin und Geliebte, eine aufopferungsvolle Mitarbeiterin begegnet, mit Friedel Siebert ihn eine späte jahrelange Liebesbeziehung verbindet, sich niemals rückhaltlos anvertraut oder preisgegeben. Distanzen bleiben immer und bis zum Schluß, mit einer gehörigen Skepsis in bezug auf gelingende Beziehungen überhaupt. »Träumst von Liebe. Glaubst an keine./ Kennst das Leben. Weißt Bescheid./ Einsam bist du sehr alleine - / und am schlimmsten ist die Einsamkeit zu zweit.«

Kästner behält die Rolle des Beobachters und Zuschauers bei, auch seiner selbst - darin mag eine gewisse Tragik seiner Existenz liegen, die, nachdem sie einmal den Mutterboden, die Heimat, nach dem Ende von Kindheit und Jugend verloren hat, diese zwar in der Erinnerung behält, ihre Topographie in einer Vielzahl von Texten verschriftet, jedoch keine neue utopische Heimat, möglicherweise die Liebe, nach der er sich sehnt, finden und aufbauen kann. Ein Leben als Zuschauer, »der sich selbst und allen, die ihn kennen, immer ein wenig fremd ist.« (Isa Schikorsky) Dies auch im Blick auf die Sicht Benjamins. Mit einem Kästnerschen Epigramm zum Schluß: »Das ist das Verhängnis:/ Zwischen Empfängnis/ und Leichenbegängnis/ nichts als Bedrängnis.«

Erich Kästner: Werke in neun Bänden. (Hg.) Franz Josef Görtz. Hanser-Verlag, München-Wien 1998. 298,- Kt 99.- DM
Isa Schikorsky: Erich Kästner. München 1998. dtv 31011 14,90 DM
Ingo Tornow: Erich Kästner und der Film. München 1998. dtv 12611, 24,90 DM
Walter Delabar: Was tun? Romane am Ende der Weimarer Republik., Westdeutscher Verlag, Opladen 1999, 69,80 DM

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