Ist Leo Kofler ein westlicher Reform-Marxist? Um diese Frage entbrannte zu Beginn dieses Jahres ein heftiger Streit im Freitag. Während der Bochumer Sozialwissenschaftler Christoph Jünke Kofler wegen seiner ausführlichen Beschäftigung mit Fragen der Ästhetik ins Reformlager schlägt (Freitag 9/01), reklamiert ihn der Hagener Philosoph Stefan Dornuf für den klassenbewußten Marxismus nationaler Prägung (Freitag 5/01). Als Antwort auf die Auseinandersetzung untersucht nun der Duisburger Literaturwissenschaftler Werner Jung Koflers ästhetisches Verständnis, wie er es im Briefwechsel mit Georg Lukacs entwickelt hat. Die Auseinandersetzung spiegelt die Schwierigkeiten, das marxistische Erbe für die gegenwärtige Orientierungssuche der Linken nutzbar zu machen.
Das schreibt einer, der es wissen muss, und er fügt dann noch hinzu: "Lukács ist eine Säule der Orientierung in der Arbeit der Nachfolger, aber keine Grenze, die man beliebig erweitern kann." Leo Kofler, der anlässlich von Lukács´ 70. Geburtstag eine Eloge über den ungarischen Philosophen und Marxisten, den Literarhistoriker und scharfen Kritiker einer stalinistischen Orthodoxie anstimmt, hat sich zeitlebens tief beeinflusst gezeigt von Überlegungen, die man durchaus summarisch unter dem Rubrum vom "westlichen Marxismus" zusammenfassen kann. Und als zentraler Vertreter dieser Denkbemühungen, ja als Stichwortgeber muss eben Georg Lukács genannt werden, der mit seinen Studien zur marxistischen Dialektik, mit der Essaysammlung Geschichte und Klassenbewußtsein (1923), sozusagen den "foundation text" eines gegen Parteiorthodoxie wie -praxie gerichteten geschichts- und praxisphilosophischen Denkens verfasst hat.
Die Äußerlichkeiten sind rasch berichtet, der philologische Tatbestand ebenso kurz skizziert wie auch die persönlichen Begegnungen beider Philosophen: Im Budapester Nachlass befindet sich eine neun Briefe umfassende Korrespondenz aus den Jahren 1962 bis 1970, fünf Kofler- und vier Lukács-Briefe; persönlich begegnet sind sich beide 1966 in Budapest anläßlich einer von Theo Pinkus angeregten Gesprächsfolge mit Georg Lukács über Fragen zur marxistischen Philosophie und Politik, die 1967 dann auch bei Rowohlt publiziert worden ist. Der knappe Briefwechsel unterstreicht erneut, wie sich beide Philosophen zueinander "positioniert" haben: Kofler versteht sich als Schüler Lukács´, der seinerseits die Lehrerrolle für sich akzeptiert, und möchte - wiewohl kritisch - bestimmte Positionen des Ungarn in die aktuellen Debatten insbesondere unter (west-)deutschen Linken hineintragen. Mit gehöriger Distanz zu den Frankfurtern, ganz besonders zu Adorno und Horkheimer, aber auch zu Günter Anders (mit dem sich allerdings Georg Lukács wieder in freundschaftlichem Briefwechsel befunden hat), berichtet Kofler von Plänen zu einer umfangreichen Arbeit, worin solche "Fragen wie z. B. die des religiösen Atheismus, der Entstehungsgründe des Irrationalismus in Deutschland, des Naturalismus als einer ästhetischen Haltung, die sich durch die Unfähigkeit der Überschreitung der gängigen ideologischen Grenzen kennzeichnet", behandelt werden sollen. Man sieht, dass Kofler im Grunde genommen ebenfalls alle Felder der Lukácsschen Philosophie besetzt: Sie reichen von grundsätzlichen ideologischen Problemen, wie sie Lukács vor allem in seinem Spätwerk, in der Eigenart des Ästhetischen (1963), der Ontologie des gesellschaftlichen Seins (postum 1984 u. 1986) und der (nur fragmentarischen) Ethik (postum 1994), thematisiert, über die Irrationalismus-Kritik im Gefolge der Zerstörung der Vernunft (1954) bis zum weiten Gebiet des Ästhetischen, das bekanntlich schon den jungen, vormarxistischen Denker anhaltend inspiriert hat.
Im Unterschied jedoch zur Lukácsschen Philosophie, der Kofler vorwirft, niemals wirklich systematisiert worden zu sein, versteht er sein eigenes - ich scheue mich nicht zu sagen - eklektisches Denken dahingehend, die Lukácsschen Ansätze zu profilieren, zu systematisieren, wie insgesamt das Projekt eines neuen Marxismus mit didaktischer Zielsetzung in der Erwachsenen- und Arbeiterbildung zu verankern. Kofler ist ein glänzender Pädagoge, ein Mensch, der von einem pädagogischen Eros geprägt und daher bemüht ist, sein marxistisches Weltbild vor allem in Vorlesungen und Reden, bei Diskussions- und Seminarveranstaltungen der Gewerkschaften oder in Volkshochschulen zu propagieren.
Ein besonderes Augenmerk hat Kofler für Fragen und Probleme der Ästhetik und Kultur, der Literatur und Kunst besessen. Schaut man in die (leider immer noch äußerst fragmentarische) Bibliographie der Texte und Werke Koflers, dann lassen sich schon früh, nämlich 1931, Artikel ausmachen, die Gedanken zu einer sozialistischen Bildung und Kultur gewidmet sind: Sozialistische Unterhaltung und Kultur. Diese Spur zieht sich über Jahrzehnte durch ein verzweigtes theoretisch-essayistisches uvre, das nicht zuletzt immer wieder Erscheinungen und Aspekte moderner Kunst und Literatur bedenkt. Er kommt häufig auf Kafka und Brecht zurück, diskutiert abstrakte Kunst und absurde Literatur samt ihrer Wechselbeziehungen und interpretiert auch Beckett. Lukács zeichnet die großen Linien vor, liefert die ästhetischen Kategorien und Argumentationsmuster, in die sich Kofler dann im Bemühen einklinkt, grundsätzlich, wie er glaubt, das Problem der ästhetischen Wahrheit und auch das der Widerspiegelungstheorie zu klären.
Kofler hält dafür, dass alle große Kunst - klassische Kunst - zugleich auch realistisch ist. Anders formuliert: Realismus ist keine historische Erscheinung, sondern stellt einen systematischen Begriff dar, der die (historischen wie ästhetischen) Tendenzen der Zukunft immer schon vorwegnimmt beziehungsweise im Sinne Ernst Blochs antizipiert. Große Kunstwerke, könnte man mit Lukác grundsätzlichem Referat von 1956 anlässlich des IV. Schriftstellerkongresses der DDR sagen, enthalten und gestalten "Perspektiven", sie übersetzen "einen wirklichen Schritt der Bewegung in Gestalt." Es macht dies die Größe realistischer Kunstwerke und literarischer Texte aus, dass sie - wie zum Beispiel das geläufige, schon von Engels diskutierte Beispiel Honoré de Balzacs zeigt - einen "Vorschein" deutlich macht, Möglichkeiten und Perspektiven in dem, was Lukács ontologisch als prozesshaften Komplex bezeichnet, anzeigen. Lukács spricht weiterhin vom Typus, worin die Prägekraft einer besonderen Individualität für ihre Zeit, also ihre Repräsentativität, liegt, und weiter von der "Kategorie Besonderheit" als Gebietskategorie des Ästhetischen, womit er den spezifischen Widerspiegelungsmodus dessen, was Kunst ausmacht, meint. Insgesamt - und hier schließen sich mindestens intentional die unterschiedlichsten Konzeptionen der Kritischen Theorie, Blochs und Lukács´ zusammen - muss die Kunst (einschließlich der sie beobachtenden philosophischen Ästhetik) durch ihr immanentes Gerichtetsein aufs konkrete Humanum definiert werden. Sie ist, sagt Lukács und schlägt damit den Bogen weit zurück in die Geschichte geschichts- wie kunstphilosophischer Ästhetik, das "Gedächtnis der Menschheit."
Auch Kofler greift stets auf solche Reflexionen zurück, die er in historischer Verlängerung über Lukács und dessen "Lob des 19. Jahrhunderts" hinaus für aktuelle Zusammenhänge fruchtbar macht. Normativ fällt auch bei ihm die Bestimmung moderner Kunst aus; zwar seien die Vertreter der Moderne von den Avantgarden um die Jahrhundertwende bis zum Absurdismus der fünfziger und sechziger Jahre, also von Kafka bis zu Beckett oder auch Ionescu, dem Problem der Entfremdung und Verdinglichung nicht ausgewichen, sondern hätten es, wie paradigmatisch in Kafkas Romanen und Erzählungen, durchaus zum zentralen thematischen Vorwurf ihres Schaffens gemacht, aber zugleich doch wieder so, dass die historisch konkreten Erscheinungen der Entfremdung im Monopolkapitalismus anthropologisch tiefergelegt, damit aber wieder ent-historisiert würden. Daher kann denn auch Kafka für Kofler im Blick auf den Sozialismus und eine mögliche sozialistische Literatur "kein Vorbild" sein; "es gibt bei ihm keinen Ausweg und deshalb auch kein echtes Problem der Freiheit." Wirkliche Vorbilder, so ruft er Hans Mayer zu, der versucht hatte, Lukácssche Überlegungen mit Tendenzen in der Moderne zu versöhnen, sind dagegen weiterhin Goethe und Balzac, Dostojewski und Tolstoi. Bei ihnen gibt es noch nicht jenen Rückzug ins komfortable (von Lukács so genannte) "Grand Hotel Abgrund", von wo aus der kritische bürgerliche Intellektuelle ohnmächtig aufs Chaos der Geschichte blickt und worin der Citoyen "die Pflege der Innerlichkeit zur leeren Ekstase" (Kofler) treibt.
Man kann es drehen und wenden, wie man will, aber "die Lösung der menschlichen Probleme im Kapitalismus" sei "nicht möglich" - so das Fazit Koflers in dem Essay Gibt es den perfekten Kapitalismus? von 1956, der für eine ganze Reihe von Arbeiten aus dieser Zeit steht, die in dem von Christoph Jünke herausgegebenen Sammelband (wieder) zum Abdruck kommen. Die Entfremdung des Menschen in seiner vom jungen Marx bereits luzide beschriebenen allseitigen Form bleibt das für die kapitalistische Gesellschaftsformation anhaltend weiter existierende Problem, dem sich Kofler - wiederum auf der Linie Lukács und seiner Spätschriften - gestellt und dessen er in etlichen Schriften gedacht hat, darunter etwa Der Alltag zwischen Eros und Entfremdung oder auch Beherrscht uns die Technik? (das im übrigen dem Lehrer Lukács gewidmet ist).
Seit den fünfziger Jahren, seit er sich mit Überlegungen zu einer grundsätzlichen marxistischen Ästhetik beschäftigt hat, kreisen Georg Lukács´ Gedanken zentral immer um das Problem der Alltäglichkeit, um das nur noch ontologisch zu begreifende Alltagsleben. Brieflich teilt er einmal Günter Anders mit, worin man den Kern seiner späten Philosophie erkennen kann: "(...) die genaue Untersuchung dessen, was ich eine Ontologie des Alltagslebens nennen würde. Das ist ein Fragenkomplex, an dem Philosophie, Soziologie etc. unserer Tage achtlos vorbeizugehen scheinen (...)" Die Ästhetik ebenso wie die nachfolgende Ontologie und auch die nicht mehr realisierte Ethik greifen im Grunde genommen nur eine Frage aus Geschichte und Klassenbewußtsein wieder auf, die nämlich nach der Erkenntnis jenes "Dunkel des gelebten Augenblicks", von dem der junge Bloch gesprochen und den der hegelianische Marxismus Lukács´ auch als "schädlichen Raum der gelebten Gegenwart" bezeichnet hat. Wie könne man, so die guten Hegelianer uni sono, was bloß bekannt ist, nun auch erkennen! Der reife Marxist findet zu einem Lösungsvorschlag auf dem Weg einer "Ontologie des gesellschaftlichen Seins", die den traditionellen Marxismus "revidiert" und dessen Kategorien unter Rückgriff auf ein Marxsches Apercu aus den Grundrissen zugleich als "Daseinsformen" und "Existenzbestimmungen" reformuliert, das heißt die existierenden gesellschaftlichen Realitäten diesseits und jenseits des "eisernen Vorhangs" im Kategorienverbund aus Arbeit, Reproduktion, Ideologie und Entfremdung beschreibt. Diese vier Kategorien bilden ein Koordinatennetz, in dem sich - so Lukács´ Anspruch - die Wirklichkeit, nicht zuletzt: diejenige des Alltagslebens, charakterisieren lässt. Konkreter Fluchtpunkt seines ontologischen Ansatzes - der normative Kern sozusagen - ist zum einen die Revision des Marxismus mit dem Ziel, endlich die stalinistische Dogmatik zu überwinden und zum originären Hegel-Marxismus zurückzufinden, zum anderen - grundgelegt in Lukács´ politischem Testament Sozialismus und Demokratisierung (von 1968) - einer basisdremokratischen Umgestaltung des real existierenden Sozialismus (mit Einführung von Räten, einer Stärkung der Gewerkschaftsbewegung usw.) das Wort zur reden.
Diesseits nun des eisernen Vorhangs, im Eldorado des Spätkapitalismus, strampelt sich Leo Kofler mit diesen Lukácsschen Reflexionen ab. Zum Einfluss des Ungarn, dessen Kategorien er in modifizierter Form übernimmt und als Bewusstsein, Telos, Arbeit und Sprache bezeichnet, kommt noch die kritische Rezeption Herbert Marcuses hinzu (Der eindimensionale Mensch, Triebstruktur und Gesellschaft). Unter den Bedingungen des Kapitalismus und der Klassengesellschaft peilt auch Kofler die Überwindung der Entfremdung via Kunst an. Kunst seitens ihrer Produktion wie Rezeption vermittelt Freiheit; sie stellt das Bild einer befreiten Produktion dar - durchaus im klassischen idealistischen Sinne in der Nachfolge Schillers. Sie erinnert weiterhin an andere Möglichkeiten, bietet Alternativen an, lässt im "Vorschein" den Oszillographen zwischen der Darstellung eines unvordenklichen, vollen und mangellosen Seins und derjenigen eines "Bewußtseins von Nöten" (Adorno) pendeln. Könnte es nicht so sein, fragt Kofler am Ende seines Bändchens über den Alltag zwischen Eros und Entfremdung, dass Freuds grandiose Einsicht in die libidinöse Struktur unserer Natur dahingehend modifiziert werden muss, dass die Sphäre des Erotischen auf den Bereich der Kunst auszudehnen ist? Denn dort erst - "in ihrem Schaffensprozeß wie in ihren Resultaten" - kann in Freiheit "genossen werden."
Ja, mehr, weiter noch und bis heute anhaltend: Müsste es nicht Aufgabe einer kritischen materialistischen Kunst- und Kulturtheorie sein, das Erbe Lukács´ (wie auch Koflers, aber auch dasjenige anderer Vertreter des westlichen Marxismus, einschließlich Blochs, der Kritischen Theorie und Benjamins) auf seine Anschlussfähigkeit zu überprüfen und dabei gerade die Vorschläge zum Umgang mit Literatur und Kunst, mit kulturellen Artefakten aller Art wieder ernsthaft zu diskutieren? - Wenn Vertreter der cultural studies, die, wie etwa Fred Jameson (Freitag 1), durchs Purgatorium der Postmoderne gegangen sind und davon sprechen, dass es um die Konstruktion und Besetzung utopisch-dystopischer Orte in der Kunst geht, kontrafaktisch zum bestehenden Schlechten, zur allseitigen Entfremdung in der spätkapitalistischen Gesellschaft, dann liegt das exakt im Schnittpunkt Lukácsscher Reflexionen, deren gleichsam letzte Worte in dieser Angelegenheit an einer Stelle der Ästhetik folgendermaßen lauten: "Kein Kunstwerk ist utopisch, denn es kann mit seinen Mitteln nur das Seiende widerspiegeln, das Noch-nicht-Seiende, das Kommende, das zu Verwirklichende erscheint darin nur, soweit es im Sein selbst vorhanden ist, als kapillarische Vorarbeit des Zukünftigen, als Vorläufertum, als Wunsch und Sehnsucht, als Ablehnung des gerade Vorhandenen, als Perspektive etc. Zugleich ist jedoch jedes Kunstwerk utopisch im Vergleich zum empirischen Sosein der Wirklichkeit, die es widerspiegelt, aber als Utopie im wörtlichen Sinne, als Abbild von etwas, das immer und nie da ist."
Kunst in Zeiten der Finsternis, von Pest, Cholera, BSE und des Treibhauseffektes, in Zeiten, die kein identisches Subjekt-Objekt der Geschichte mehr zu kennen scheint, bloß noch abstrakte Sieger (Aktienkapital) und namenlose Verlierer (wieder an der Börse oder auch an der Peripherie des Kapitalismus in der Dritten Welt), in solchen Zeiten vermag (freilich immer noch) Kunst ein Doppeltes darzustellen und zu vermitteln: Erinnerung und Hoffnung, die, worauf der junge Lukács aus seiner Theorie des Romans schon 1916 hellsichtig hingewiesen hat, ebenso das Gedächtnis für gelebte Alternativen wie den Vorschein eines ungelebt Möglichen offenhalten. Am Ende des zweiten Bandes seiner Ontologie heißt es dazu ganz ähnlich noch: "Das Kunstwerk, wenn es wirklich eines ist, hat (...) ein permanentes, immanentes Gerichtetsein gegen die Enfremdung."
Prof. Dr. Werner Jung lehrt Neuere Deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Duisburg. Er ist im Vorstand der Internationalen Georg-Lukács-Gesellschaft und Herausgeber des Jahrbuchs der Lukács-Gesellschaft, das im Bielefelder Aisthesis-Verlag erscheint. Der kommende, fünfte Band des Jahrbuchs enthält die erwähnte Korrespondenz zwischen Lukács und Kofler.
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