Finale mit Showdown

Schamlippensalat Arno Orzesseks biederer Debüt-Roman "Schattauers Tochter"

Die Zeichen und hier vor allem natürlich die Bücher mehren sich dafür, dass eine Zeit der Bilanzen und Abrechnungen gekommen ist. Modo aesthetico et more geometrico: Der Zeitroman setzt zur neuen Konjunktur an! Sei´s in Gestalt großer Romanzyklen, etwa von Erasmus Schöfer (Die Kinder des Sisyfos) oder - dem diametral entgegengesetzt - im Gesamtwerk eines Peter Kurzeck, oder auch in Form gut und leicht verdaulicher - damit leider aber auch wieder ebenso verderblicher - Ware wie bei Alexander Osang, Thomas Brussig oder jüngst - Arno Orzessek.

Worum es geht? Eben da beginnen bereits die Probleme: nämlich um alles und jedes, Gott und die Welt, Deutschland von hinten und vorne, und dies seit rund 70 Jahren. Das Romandebüt Orzesseks, der als Journalist für die SZ und das Deutschlandradio arbeitet, spannt eine Familiengeschichte von den späten 1930er Jahren bis in die aktuelle Gegenwart hinein aus.

Das 18-jährige masurische Mädchen Marie aus strengem pietistischen Elternhaus lernt 1937 den jungen Unternehmerssohn Hermann Eckstein aus dem Westfälischen kennen, verlässt mit ihm ihre Heimat, um ihn durch den Kriegseinsatz an der Ostfront zunächst aus den Augen zu verlieren, kurzfristig eine nicht mehr gelingende Wiederannäherung mit einem schwer gezeichneten Ehemann zu betreiben, aber schließlich doch ganz aus den Sinnen zu verbannen.

Maries Sohn Gustav Hermann ist das gut gehütete Geheimnis einer heftigen und deftigen Liaison mit dem jungen Burschen Danni, der sich jedoch, als es darauf angekommen wäre, nicht zu Marie bekennt und später ein unauffällig kleinbürgerliches Leben im Nachkriegsdeutschland führt, natürlich heiratet und einen Sohn in die Welt setzt.

Und darum dreht sich dann alles in einer verzwickt-verzwirbelt anmutenden Geschichte, die auf der längsten Strecke auf mehreren Zeitebenen und an verschiedensten Lokalitäten spielt, um sich schlussendlich zu runden und aufzulösen: die Beziehung eines ungleichen Brüderpaars, des Lehrers, Womanizers und verhinderten Wissenschaftlers Dr. Gustav Hermann Eckstein einerseits und seines Schülers Eduard, der seinen Rhetoriklehrer in einer Mischung aus grenzenloser Bewunderung und abgrundtiefem Haß begegnet, andererseits. Der eine wird vom Erzähler, einem Freund Eduards, als schwanzregierter Intellektueller mit dämonisch genialem Anstrich gezeichnet. Das impliziert, dass er bisweilen auch genial danebenhauen kann, wie im Fall seines geplanten opus eximium über die Geschichte der modernen Rationalität, das bestenfalls Fleißkärtchen verdient. In den schlimmsten Passagen verbreitet das jedoch Allerweltsbanalitäten. Der andere dagegen ist weitaus geerdeter, tappt nicht gar so blind in der Sinnenlustfalle samt "Schamlippensalat", sucht und findet zumindest zeitweilig - die längste Zeit des Romans - indem ihm unbekannten Bruder ein Vorbild, dessen ästhetische und andere Kultur dem Kleinbürgersohn imponiert, um im tragischen Finale mit klassischem Showdown dann jedoch wieder alles zu verlieren: seine Geliebte, die sich der Bruder unter den Nagel und auf den Schragen gerissen hat, jegliche Hoffnung und - natürlich - sein eigenes und des Bruders Leben, nachdem er das Familiengeheimnis gelüftet hat.

Alles klar. Nichts gut. Doch alle Fragen - endlich - gelöst, auf dass sich der Vorhang schließen und jeder Leser beruhigt schlafen gehen kann. Denn das ist es, was dem Roman, der bieder realistisch und ohne modischen Schnickschnack gehalten ist, unbedingt vorgeworfen werden muss: dass er zu glatt und poliert, zu rund und geschlossen - filmreif möchte man sagen - wirkt. Man muss ihm vorhalten, dass er keine Widerstände, Lücken oder andere Sperrigkeiten seiner Lektüre entgegensetzt - mithin dass am Ende außer einigen Bildern und Passagen kein wirklicher Eindruck, kein wirkliches Problem zurück bleibt.

Um Peter Handkes Begriff für solche Fälle einmal mehr zu verwenden: ein Buch - wer´s mag - für Lesefutterknechte, und gewiss eines - die bisherigen Auszeichnungen haben´s verdeutlicht - ganz nach dem Gusto unseres poetologischen Gralshüters der Nation. "Aber in Wirklichkeit geht natürlich alles. Das Bestreben nach Einfachheit, Halt und Bedeutung wird von Romanen stets besser befriedigt als von der Wirklichkeit" - heißt es irgendwo fürchterlich beruhigend auf halber Strecke des Romans.

Arno Orzessek: Schattauers Tochter. Roman. Rogner und Bernhard bei Zweitausendeins, Berlin-Frankfurt 2005, 648 S., 17,90 EUR


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