Drei Jahre nach seiner Emeritierung hat es den Ingenieurwissenschaftler und Professor Wilhelm Radtke erwischt. Nach einem Schlaganfall liegt er im Wachkoma, und der Sohn Christoph wird von seiner Mutter, die eine Freundin in Hamburg besuchen will, gebeten, nach Schwerin zu kommen, um an der Seite der bulgarischen Krankenpflegerin Kristina nach dem Vater zu sehen. Mehr oder minder widerwillig begibt sich Christoph, der gerade seinen Job als Architekt verloren hat und auch seine Freundin an die USA und die Stadt New York, ins elterliche Haus, das 1971 zu seiner Geburt gebaut worden ist und zusätzlichen Reiz durch einen drei Jahre später eingerichteten Pool ("der einzige Swimmingpool der Stadt zu dieser Zeit") gewonnen hat. Damit ist bereits viel über die Familie gesagt, denn der Vater - selbst aus der Arbeiterklasse stammend - ist ein gehätscheltes Kind der Partei gewesen, und eines dazu, das in der DDR eine glänzende Karriere gemacht und über ein solides Einkommen verfügt hat. Lange noch über die Wende hinaus.
Dennoch - der Sohn muss sich fragen, was er eigentlich von seinem Vater weiß, außer den üblichen Banalitäten und Äußerlichkeiten. Schon der früheren Freundin Susanne ist es vorgekommen, als habe Christoph in der Zeit zwischen der Geburt und dem Beginn des Studiums mit seiner Mutter allein gelebt. In der Tat, so erfahren wir, hat der Vater einen strikten Tagesrhythmus eingehalten, der im wesentlichen von der Arbeit in seinem Institut bestimmt gewesen ist. Spät erst - viel zu spät für das Kind - ist er abends heimgekehrt und hat sich auch sonst nicht an der Erziehung seines letzten, dritten Kindes ("nicht eingeplant, und vielleicht nur aus Übermut gezeugt, aus Freude über einen Bauplatz am Kalkwerderring") beteiligt.
Dieser jetzt hilflos auf seinem Bett liegende Mann, sein Vater, ist für Christoph ein Fremder geblieben. Ein lebenslanger Opportunist, das heißt ein normaler und gewöhnlicher Mensch, der die Segnungen des Systems willfährig angenommen, zugleich aber, wie es an einer Stelle heißt, früh schon der Partei abgeschworen hat. Ein Mann, der die Klassenkampfparolen ganz auf die Statusfront verschoben hat. Entscheidend ist eben auch im Sozialismus nur das, was man hat: nämlich ein stattliches Haus auf noch stattlicherem Grund - mit Swimmingpool darin. Verräterisch ist dabei nur, dass es in diesem Haus, wie der Sohn rückblickend feststellen muss, überhaupt keinen eigenen Raum des Vaters gibt: "Er hat das Haus gebaut und immer wieder renoviert, gestrichen, das Dach gedeckt und Regenrinnen herumgezogen. Aber es war ihm offensichtlich nicht wichtig, wie es innen aussah. Dort, wo man lebt. Er hatte keinen eigenen Raum, es gab kein Arbeitszimmer oder so etwas. Als man ihn emeritierte, sprach meine Mutter viel davon, eines der Kinderzimmer unter dem Dach für meinen Vater als Arbeitszimmer herzurichten. Ich habe nie eine Äußerung meines Vaters dazu gehört."
Worum handelt es sich nun? Tristesse pur, Entfremdung auf sozialistische Art, die Wonnen der Gewöhnlichkeit? Doch plötzlich gibt es den Einbruch, offenbart sich jäh, dass es auch im Leben des Vaters (mindestens eine) "unerhörte Begebenheit" gegeben hat. Denn er erhält einen Brief, den der Sohn widerrechtlich öffnet, aus dem unzweideutig hervorgeht, dass er weiland in Zürich, wo der Vater Anfang der achtziger Jahre für ein Forschungsfreisemester an der ETH gearbeitet hat, eine Geliebte hatte. Und nicht nur das. Ein uneheliches Kind obendrein. Christoph beschließt, Eva, die frühere Geliebte, in Zürich zu treffen, und lernt eine Frau kennen, die es seinerzeit einzig auf ein flüchtiges Abenteuer mit dem exotischen Wissenschaftler aus der DDR abgesehen hatte. Weiter nichts. Dass dabei dann ein Kind herausgekommen ist, ist ein Verkehrsunfall gewesen; weitaus fürchterlicher dagegen, dass diese Tochter auf grauenhafte Weise bei einem Motorradunfall am Comer See gestorben ist, wie Eva am Ende ihres kurzen Zusammenseins mit Christoph berichtet.
Also eine unerhörte Begebenheit - oder vielmehr doch eher keine? In den Gesprächen mit Eva wird Christoph immer klarer, dass, je mehr er über seinen Vater erfährt - seine Zurückhaltung und Schüchternheit einerseits, die Beliebtheit unter Kollegen und Studenten andererseits -, dieser selbst ihm immer fremder wird: "Wie soll ich jemanden lieben, der sich mir entzieht. Der über all das, was ich dir eben erzählt habe, kein Wort verloren hat. Er hat nicht einmal seine Stasiakte angefordert ... . Ich habe keinen Weg zu ihm gefunden, und er hat ihn nicht einmal gesucht." Ja, schlimmer noch, glaubt der Sohn, dass man überhaupt "kein richtiges Bild von ihm entwerfen kann.." Schließlich das endgültige Verdikt: durch solche Menschen wie Wilhelm Radtke habe das System der DDR so lange funktioniert.
Zurückgekehrt ans Krankenbett des Vaters, endet der Text geradezu klassisch: "Ich setzte mich neben ihn und sah aus dem Fenster auf die Laterne. Meinen Kopf auf die Rückenlehne des Sessels gelegt, schloß ich die Augen und begann von der Schweiz zu reden, von Eva Holzinger und seiner toten Tochter und ihrem Grab über dem Comer See. Ich tat dies sehr langsam und ausführlich, und später erzählt ich ihm dann auch von mir selbst."
Gregor Sander, dessen Debüt Ich bin aber hier geboren (Freitag 11/2003) 2004 mit dem Förderpreis zum Friedrich Hölderlin-Preis der Stadt Homburg ausgezeichnet worden ist, hat mit seinem neuen Roman einen beeindruckenden Text vorgelegt, der, ohne ein Wort zuviel zu setzen, kurz und knapp die Geschichte einer Abwesenheit erzählt - eine Abwesenheit, die deshalb umso grauenhafter ist, weil die Präsenz des Vaters/des Staates/ des Systems zugleich allgegenwärtig und dennoch niemals recht greifbar ist. Entscheidend, so zumindest ein Charakteristikum moderner großer Literatur, das auf Sanders Text gewiss zutreffen mag, ist das Nicht-Gesagte, die Lücke, der Bruch.
Gregor SanderAbwesend. Roman. Wallstein, Göttingen 2007, 160 S., 16 EUR
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