Eine junge Deutsche, Anfang 30, in Paris; sie lebt mit dem Künstler Raul, ihrer neuen Liebe, zusammen und versucht tagsüber an ihrer Dissertation in der Bibliothèque Nationale zu schreiben. Oft aber verbringt sie auch, wenn Raul in seinem Atelier arbeitet, allein die Abende und sieht zu, ohne das Licht eingeschaltet zu haben, "wie die Gegenstände des Zimmers langsam ihre Umrisse verlieren, sich von ihren äußeren Grenzen her gleichsam auflösen." Dabei, so fährt die Ich-Erzählerin fort, werde sie schließlich "selbst Teil dieser schleichenden Verwandlung, werde zu einem der Schemen um den gelblichen Lichtschein herum, den die Straßenlaterne auf den Fußboden wirft."
Davon - von Verwandlung, Auflösung, labyrinthischer Verwirrung, Traumbildern und anderem "Flechtwerk innerer Bilder", wie es an einer Stelle heißt, handelt der Romanerstling der 34-jährigen Autorin, die heute in Paris lebt. Obwohl die Räume klar und übersichtlich abgesteckt sind, von einem längeren Aufenthalt in Tolmedo die Rede ist, die Pariser Gegenwart sowie eine kurze Rückkehr nach Deutschland zwischen der Zeit in Spanien und dem Aufbruch nach Paris geschildert werden, liegt das Eigentliche und Eigentümliche von Ammars Roman in der Behandlung der Zeit. Denn es geht um Zeit, Bewusstsein und Wahrnehmung, darum, wie Erlebnisse der und in der Zeit immer wieder neu modelliert und anders konstruiert werden: "Doch das Einzigartige löst sich von ihr, während ein übermächtiger Sog sie rücklings mitreißt, von der Zeit entfernt, in der nur sie beide gewesen sind, Sergio und Alice. Das Seltsame ist nur, daß diese Zeit offenbar nicht hinter ihr zurückbleibt, sondern sie selbst es ist, die sich rückwärts bewegt, während all die Bilder von Tolmedo wie der Effekt einer Spiegelung immer weiter vor ihr liegen." Klingt das nicht wie die Übersetzung von Walter Benjamins Angelus Novus´ Interpretation in Romanprosa?
Die in der Gegenwart schreibende Erzählerin, die zu Beginn des Romans noch dabei ist, sich in Rauls Blick neu zu erfinden, "fern von der Alice, die ich in Tolmedo gewesen war, Alicia damals", versucht, sich von den Erinnerungen mit dem wesentlich älteren Sergio, dem Philosophen und Architekten, zu befreien. Und damit von einer kurz zurückliegenden Vergangenheit, deren irritierende Schatten sich, je länger die Erzählung dann fortschreitet, über die Pariser Gegenwart legen. Ja, bisweilen kommt es der Erzählerin sogar vor, als existiere so etwas wie Gegenwart, der Augenblick, überhaupt nicht, als schöben sich immer jene anderen Ebenen und Dimensionen der Vergangenheit und Zukunft darüber - dasjenige, was der Phänomenologe Edmund Husserl mit Retention und Protention, also der erinnernden und vorwegnehmenden Vergegenständlichung, bezeichnet hat. Reines, sozusagen präsentisches Bewusstsein existiert nicht. "Was ist denn also der Augenblick", sinniert die Erzählerin einmal, "in dem ich bin, ist es das Hämmern oder die Szenen meiner Gedanken, die so unaufhörlich abschweifen von dem, was hier und jetzt meine greifbare Gegenwart wäre, dachte ich. Wie kann ich meinen Augenblick denn leben, wenn ich ihm keinen Namen zu geben vermag, er vor meinem gesichtslosen Blick verschwimmt, mitgerissen wird von dem Strom ihm vorangehender und folgender Momente. Keinen Anker hat die Gegenwart, weil kein Blick sie kommentiert, mit einem Rahmen versieht und in Perspektive setzt."
Ammar stellt sich in ihrem preisgekrönten Roman in die Tradition der klassischen Moderne von Joyce (und dessen Epiphanien) über Woolf und Faulkner bis zu Brigitte Kronauer und liefert auch gleich eine immanente Poetik mit, indem sie von den Schwierigkeiten berichtet, an so etwas wie Wirklichkeit heranzukommen. Denken und schreiben - nichts als hohle Konstruktionen: "Daß also alles Fallen ist und jede Ordnung imaginär. Und alles Denken zu dem aussichtslosen Unterfangen wird, für einen Moment festzuhalten, was in sich kein Halten kennt, und es in eine künstliche Anordnung zu fügen, an die man sich klammert, dabei aber insgeheim schon immer um ihre Nichtigkeit weiß." Ammar erzählt auf beeindruckende Weise, wie sich Traumbilder ineinanderschieben und überlagern, wie vermeintliche Realität nicht über die bloße Annahme und den Vermutungscharakter hinauskommt, dass überall Geschichte aus einer Vielzahl von Schichten sprießt und in jedem Jetzt und Nu Palimpseste stecken.
Die entscheidenden Schlüsselwörter verwendet die Erzählerin nacheinander auf den letzten Seiten ihres Textes: Labyrinth - Puzzle - Verwirrung. Schlüssel freilich in dem Sinne, wie der Soziologe Georg Simmel davon gesprochen hat, dass es für sie mehrere Schlösser gibt - mithin: verschiedene Antworten möglich sind. Am Ende erscheint es der Erzählerin, als ob "diese möglichen Vergangenheitskonstrukte" immer wieder nur "verzerrt" würden und zu einer nur in ihr existierenden Wirklichkeit gerieten. "Und dennoch gelang es mir nicht, das absurde Gefühl einzudämmen, unmittelbar etwas zu streifen, ohne es erkennen zu können, selbst als blindes Steinchen in dem sich um mich fügenden Mosaik verhaftet zu sein."
Ammar hat einen - im besten Sinne des Wortes - irritierenden Roman geschrieben, der mühelos - das heißt eben: unangestrengt - aus modernen (natur-)wissenschaftlichen und bewußtseinstheoretischen Einsichten erzählerisches Kapital zu schlagen versteht. Was aber ist nun, so können wir in Abwandlung von Augustinus´ berühmter Frage über die Zeit formulieren, die Wirklichkeit? Sobald wir darüber zu sprechen beginnen, löst sie sich wieder auf. Lesen wir also statt dessen lieber Romane, also Versuchsanordnungen bzw. Simulationen, wovon Ammars Erstling ein bemerkenswertes Zeugnis darstellt: "Denn nichts war endgültig ausgetragen, unermüdlich bewegten sich die Figuren über immer neue Spielfelder, und ich mich mit ihnen."
Angelica Ammar Tolmedo. Roman. Ammann, Zürich 2006, 256 S., 18,90 EUR
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