Ganz weit draußen tief im Westen der Republik, da, wo auch die Erzählungen und Romane von Autoren wie Silvia Szymanski, Dietmar Sous und Norbert Scheuer angesiedelt sind, spielt auch der Romanerstling von Paul Ingendaay: in einem niederrheinischen Kaff an der holländischen Grenze, ganz in der Nähe von Kevelaer, Geldern und Weeze, wo´s seinerzeit allerdings weder den Flugplatz noch die später legendären "Bizarre Festivals" des WDR gegeben hat. Ingendaay schaut zurück in die frühen siebziger Jahre mit dem Höhepunkt 1977. Falsch! Nicht um die RAF-Geschichten und eine überwachte Gesellschaft geht es dabei, sondern vielmehr um dasjenige, was sich auf jener "Insel der Verzweiflung im niederrheinischen Nichts" abgespielt hat. Hier ist alles um einige Takte langsamer, und die Wolken hängen tief, wie es einmal lakonisch heißt.
Marko Theunissen nennt Ingendaay seinen Protagonisten, der als Zehnjähriger ins Internat gekommen ist und als Ich-Erzähler schließlich seiner Leserschaft, die komplizenhaft häufig in der zweiten Person Plural angesprochen wird, vom letzten Jahr im "Collegium Aureum" berichtet. Denn da überstürzen sich plötzlich die Ereignisse und beschleunigt sich die Zeit, die vorher im Gleichmaß zu ersticken gedroht hat. Marko ist inzwischen 16 und hockt mit Motte, Tilo, Onni und den anderen auf einer Bude, erzogen von den frommen Brüdern Gregor und Hermann sowie dem Präses. Im Hintergrund wuselt ständig noch das Faktotum Jan Spaans, der bereits länger als 50 Jahre im Internat weilt. Und man tut, was man hier so zu tun gezwungen ist: vor allem sich langweilen, zumal wenn auch die Lektüre Robin Crusoes, der Hebbelschen Tagebücher und Senecas einen nicht mehr über die langen Tage retten kann.
Dann ist da selbstverständlich auch die Mädchenfrage, die sich mit Macht ins Gemächte und die Köpfe drängt - nicht zuletzt gerade immer dann, wenn eigentlich die fromme Gottesfrage zur Erörterung stünde. Natürlich wissen die klugen wie heiligen Brüder um die argen Gefährdungen und Anfechtungen, weshalb der Präses auch die schlaue Formel ausgegeben hat: "Lieber sterben als verderben!" Und, weiter noch, sogar die Gründung eines DKP (=der katholische Pfad) vorschlägt, der es der wirklichen DKP und allen anderen Kommunisten so richtig zeigen soll.
Doch die schönen Träume zerplatzen nächtens beim Wichsen geradeso wie tagsüber bei den ersten schüchtern-zärtlichen Annäherung ans andere Geschlecht, an Monika aus der Schuhfabrik etwa, die´s Onni angetan hat, oder die 14jährige Margret, die Marko das Küssen beizubringen versucht: "Sie war eine gute, ausdauernde Küsserin, und sie wollte, daß ich ihre Hassumer Techniken übernehme. Sie hatte ziemlich genaue Vorstellungen. Also arbeiteten wir daran. Mich störte ein bißchen, daß ich an große Schnecken denken mußte. Schnecken, die sich vermehren. Na ja." Dabei sind es genau jene zarten Pflanzen der Versuchung, die Marko über die als bittere Enttäuschung erlebte Trennung und Scheidung seiner Eltern hinweghilft. Hinzu kommen Gespräche, insbesondere über Literatur, mit dem aufgeschlossenen Bruder Gregor, der jedoch die rigiden Zwänge und Ordnungsvorstellungen des Internats selbst nicht länger aushält und sich erhängt.
Aber was nichts sein darf, ist eben nicht, und so will der Präses den Selbstmord auf einen Herzinfarkt hinauslaufen lassen. Nur Marko, der es wie auch die Freunde besser weiß, weil sie die Leiche gefunden haben, macht das Spiel der geistlichen Führung nicht mit und verkündet lauthals am denkbar (un-) geeignetsten Ort, bei der Trauerzeremonie nämlich, was es mit dem Tod des Bruders auf sich hat. Daraufhin wird er unter dem fadenscheinigen Grund, Bücher entwendet zu haben, der Schule und des Internats verwiesen. Auf der letzten Seite des Textes lässt Ingendaay seinen Protagonisten von der Mutter abholen, und er schenkt ihm ein neues Leben, die Wiedergeburt in der Großstadt: "Dann fuhren wir weiter, und es war, als rauschten wir schnurstracks in meine Zukunft hinein. Von Geldern nach Nieukerk, von Nieukerk nach Aldekerk und weiter nach Kempen, ihr kennt die Route ja."
Der 1961 in Köln geborene FAZ-Korrespondent für Spanien und Literaturkritiker Paul Ingendaay hat einen auf berückend faszinierende Weise naiv geschriebenen Roman vorgelegt. Darin hält er das wunderbare Gleichgewicht zwischen der Darstellung erstickender Langeweile und grauenvoll-peinlicher Ordnungssysteme auf der einen und Auf- und Ausbrüchen samt initiatorischer Riten und sexuellen Erwachens auf der anderen Seite: zwischen Lust und Frust, Trauer und Melancholie. Ingendaays reiht sich, gewiss ohne dass er es darauf abgesehen hätte, in eine illustre Tradition von Adoleszenzromanen von Hesse über Robert Walser bis zu Friedrich Torberg und braucht die Angst vor Vergleichen überhaupt nicht zu scheuen. Der einzige Vorwurf (vielleicht), den man Ingendaay machen könnte, ist der des Unökonomischen, denn die Familiengeschichte des ersten Teils des Romans verliert sich ein wenig im zweiten, in dem das Internatsleben im Vordergrund steht.
Paul Ingendaay: Warum du mich verlassen hast. Roman. SchirmerGraf, München, 2006, 512 S., 24,80 EUR; dtv-Taschenbuch 9,50 EUR
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