Kirche im Koma

Stellvertreter Petra Morsbachs wunderbarer Roman "Gottesdiener"über einen katholischen Priester auf dem Land

Zwischendurch fragt man sich mehr als einmal, was wohl Heinrich Böll zu diesem Roman gesagt hätte. Wahrscheinlich hätte er nach einem tiefen Zug aus der Zigarette bedächtig den Kopf zur Seite geneigt und ein überzeugtes wie überzeugendes "Großartig" gemurmelt. Das sei im übrigen genau das, was ihm ebenso vorgeschwebt habe, etliche Male und in einer Vielzahl von Variationen, was ihm aber als nunmehr altem Mann und Schriftsteller nicht mehr so recht gelingen wolle. Und nun sei diese Frau Morsbach gekommen, die seine Probleme, Motive, Fragestellungen aufgegriffen und mit moderneren Mitteln aus der Perspektive eines neuen Jahrhunderts dargestellt habe - eines Jahrhunderts zumal der krassesten Widersprüche und Gegensätze, von Atavismen und einem radikalen Dogmatismus, einem Geltungsverlust der christlichen Amtskirchen einerseits, dem heißen Wunsch nach letztgültigen Orientierungen andererseits.

Lieber Böll, du magst Recht haben mit dieser Einschätzung, und ich gebe dir weiter Recht darin, dass hier jemand auf eben deiner Linie fortgeschrieben hat. Jedenfalls ein gehöriges Stück weit. Dazu lege ich mich noch fest, dass dieser letzte Roman der Marie-Luise-Fleißer-Preisträgerin eines der schönsten Bücher der letzten Jahre ist!

Es geht um nicht mehr und nicht weniger als ein ganzes Priesterleben, das hier recht geradlinig erzählt wird, das jenes rothaarigen Stotterers Isidor Rattenhuber, dem gar nichts anderes übrig geblieben ist (bei einem solchen Namen!): "Er wollte gut sein und anderen helfen, hat er vor vierzig geantwortet. Er wollte sich opfern, hätte er vor zwanzig Jahren gesagt: Was sollte er sonst tun? Er bestand zu 66 Prozent aus Wasser und versprach sich nichts von sich." Morsbach hat eine Entwicklungsgeschichte geschrieben, die zugleich eine Sozial-, Kultur- und Mentalitätsgeschichte der letzten Dezennien umfasst. Denn hier wird die Welt von unten - im Aufstieg zu Gott? - gespiegelt: Bodering, die Gemeinde im bayerischen Wald irgendwo zwischen Passau und Grafenau, steht für das katholische Deutschland schlechthin, hier und jetzt - wie bereits vor 40 Jahren.

Zwar steht auch weiterhin die Kirche fest im Dorf, aber es gärt, brodelt und rumort doch allerorten gewaltig. Der Kampf zwischen Sitte und Sexus mit durchaus gewissem Ausgang: die Sitte nämlich, vulgo: der Katholizismus, deckt alles wieder zu, was an lästig-lüsterlichen Begehrlichkeiten (in der Regel das sechste Gebot betreffend) entweder aufscheint oder vielmehr schämig aufkeimt. Mit anderen Worten es wird fremdgegangen und gevögelt, gesoffen und geprügelt, schließlich wieder gebetet und gebeichtet: Ego te absolvo, wonach, wie es bei Marx in anderen Zusammenhängen so schön heißt: die ganze alte Scheiße von neuem beginnt.

Dazwischen unser armer Isidor, zwischen Baum und Borke, der Stellvertreter Gottes qua Amt, doch längst kein Heiliger. Im Gegenteil. Hochwürden plagen nicht nur die üblichen zölibatären Einschränkungen und nächtlichen Ausbrüche ("Isidor war inzwischen fünfundvierzig Jahre alt und hatte im Traum mit seiner halben weiblichen Gemeinde geschlafen, auch und gerade mit Frauen, die ihm in Wirklichkeit weniger gefielen"), sondern alkoholische Exzesse und permanente agnostizistische Anfeindungen eines gewesenen Physikers aus der DDR und gewaschenen Rationalisten: "Bitte nehmen Sie mir die Frage nicht übel, aber ... glauben Sie wirklich, daß der Keks ... in Ihren Veranstaltungen ... der Leib Christi ist?"

Mehr noch aber als diese gewohnheitsmäßigen Verlockungen Satans scheint Isidor an den Trostlosigkeiten des Alltags seiner Gemeinde(-Mit- und ohne Glieder) und der eigenen Hilflosigkeit zu verzweifeln. Die Kirche, so entfährt es ihm in einem unbedachten Moment, befinde sich im Koma, er selbst - am Ende fassungslos Perversitäten aus dem Telefon anzuhören gezwungen - ratlos, was von ihm geforderte und benötigte Hilfe angehe: "Damals hat er Judith nicht helfen können. Nun, vielleicht war ihnen nicht zu helfen. Aber wozu ist er dann da?"

Ganz zum Schluss drängen sich in einem einzigen "großen Bild" Stationen seines Lebens zusammen - in einem an Flauberts Education sentimentale erinnernden Tableau verpasster Gelegenheiten: die Erkenntnis zudem, eine rundum mittelmäßige Existenz geführt zu haben und vor dem wirklichen Leben, wenn es tatsächlich existenzielle Forderungen gestellt hat, geflohen zu sein beziehungsweise es in der Ohnmacht des Glaubens auf ganzer Linie verdrängt zu haben. Der aber dennoch - so der Rettungsanker, die Überlebensformel gleichsam - mit seinen Travaux de devouement (Charles Fourier) wiederum Pflichten auf sich genommen hat, "zu denen sich", wie es der Hegel-Schüler und Verfasser einer Ästhetik des Hässlichen Karl Rosenkranz 1853 vortrefflich ausgedrückt hat, "Menschen aus Resignation entschließen, weil sie die Nothwendigkeit derselben für das Gesammtwohl erkennen."

Isidor Rattenhuber - ob man dich bedauern kann? Verstehen ja, doch bedauern nein. Da reicht die Selbsterkenntnis und das Selbstverständnis der Figur nicht weit genug. Wir gönnen dir allenfalls noch, auch wenn´s der definitive Rückfall und gewiss letzte Absturz in den Alkohol sein dürfte, viele Wirtshausabende - und die anschließende nächtliche Ruhe.

Petra Morsbach: Gottesdiener. Roman. Eichborn, Frankfurt am Main 2004, 372 S.,
22,90 EUR


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