Literatur ist gefährlich

Dunkelkammer Zum 80. Geburtstag von Dieter Wellershoff

Warum ist Literatur gefährlich? Weil sie "an die Sprengsätze der menschlichen Existenz" rührt. "Sie kann gefährlich sein für den Leser, weil sie ihn mit Erfahrungen konfrontiert, die er in den Routinen und Begrenzungen seines alltäglichen Lebens gewöhnlich zu vermeiden versucht." Das steht irgendwo in der Mitte von Dieter Wellerhoffs Essayband Der verstörte Eros (2001), in einer Arbeit, die nicht nur das große beherrschende Thema der europäischen Literatur seit dem 18. Jahrhundert - dieser diffus-diffizilen Gemengelage aus Liebe, Ehe, Sex und Verrat - anhand einer Vielzahl kanonischer Texte wie Klassikern des Gegenstroms diskutiert, sondern zugleich auch so etwas wie die Grundlinien der eigenen Poetik, das untergründige Thema aller Wellershoffschen Texte, umreißt.

Insofern kommt dem zitierten Satz wieder eine Schlüsselstellung zu. Denn was darin im Blick auf Proust formuliert wird, trifft genauso gut auf Goethe, Tolstoi und Fontane, auf D. H. Lawrence oder Henry Miller, schließlich auf den verkappten Moralisten Houellebecq zu. Ja - und natürlich auf Wellershoff selbst, dessen Romane, Novellen und Erzählungen, Hör- wie Fernsehspiele und Filme existenzielle Grenzerfahrungen im ästhetischen Raum verschärfen. Wellershoff nämlich wird nicht müde, Literatur (aber auch andere Kunst) als "Simulationsraum" und "Probebühne" zu bemühen, auf der Probleme des Lebens, insbesondere solche an den "Grenzpunkten der Peripherie" (mit Nietzsche zu reden) verhandelt werden. Und was könnte auch spannender und reizvoller für einen Autoren sein, als den Dauerbrenner der Moderne, ihren "running gag": die romantische Liebe, in immer wieder neuen Gestalten und Konstellationen zu beschreiben?

Nachdem Wellershoff in Drehbüchern für Fernsehspiele, etwa Flüchtige Bekanntschaften (1987), den ganz gewöhnlichen Liebes- und Beziehungswahn in unserer Republik während der siebziger und achtziger Jahre inszeniert hat, nachdem er vor allem in verschiedenen Erzählbänden, angefangen bei Doppelt belichtetes Seestück (1970) über Die Körper und die Träume (1986) bis jüngst zu der Sammlung mit Alterserzählungen Das gewöhnliche Leben (2005), den Illusionen in diesem Spiel nachgegangen ist und im Roman Der Liebeswunsch (2000) den endgültigen Schwanengesang angestimmt hat, fügt er mit seinen Essays sozusagen eine Coda hinzu.

Er zeigt anhand seiner eigenen privaten "Hitliste", wie sich das Themenbündel Liebe, Sexualität, Ehe samt Ehebruch, nachdem die aufklärerische Idee einer partnerschaftlichen Beziehung mit der Entdeckung der Empfindsamkeit und der nachmaligen (zunächst noch sympathischen) Vorstellung einer romantischen Liebe aufgegeben worden ist zugunsten hypertropher Ideologeme, mäandernd durch die europäische Literatur zieht. Im Grunde genommen und verkürzt ausgedrückt, windet sich seit dem frühen 19. Jahrhundert, seit den großen Realisten (von Stendhal über Balzac und Flaubert zu Tolstoi und Fontane), ein unsichtbares Band, dem man den Titel einer Desillusionsromantik zusprechen darf. Eine Vorstellung, die Wellershoff thematisch auf dem Feld von Liebe, Leid und Lust präzisiert und entlang filigraner Einzelinterpretationen fortspinnt durch die Literatur des 20. Jahrhunderts, um bei der Prosa von solch unterschiedlichen Autorinnen und Autoren wie Jelinek, Houellebecq oder Bret Easton Ellis auslaufen zu lassen.

An dieser Stelle ist jetzt natürlich auch wieder einmal die Gelegenheit da - und muss sogar auf dem Hintergrund der jüngst diskutierten Thesen der neuen "Relevanten Realisten" (Matthias Politycki et alia) einmal mehr darauf hingewiesen werden, dass diese Geschichte mit dem Realismus natürlich ein ganz alter Hut ist! 1965 nämlich hat bereits Dieter Wellershoff, damals in der Doppelfunktion als Lektor des Kiepenheuer und Witsch-Verlags und als debütierender Prosa-Autor (mit dem Roman Ein schöner Tag von 1966), mit voller Breitseite gegen die kommode Ästhetik der Gruppe 47 samt einer claquierenden Literaturkritikerriege (etwa Heinrich Vormweg an vorderster Front) argumentiert und für ein neues Literaturverständnis geworben. Darin heißt es unter anderem - und an diesen Kernthesen hat Wellershoff die längste Zeit (und gewiss lange Zeit zum eigenen Schaden, da er oftmals und leichtfertig von der Kritik als glänzender Essayist, aber schlechter Prosaautor abgestraft worden ist) beharrlich festgehalten: Literatur erhebe keine metaphysischen Ansprüche mehr. "An die Stelle der universellen Modelle des Daseins, überhaupt aller Allgemeinvorstellungen über den Menschen und die Welt tritt der sinnlich konkrete Erfahrungsausschnitt, das gegenwärtige alltägliche Leben in einem begrenzten Bereich. Der Schriftsteller will nicht mehr durch Stilisierung, Abstraktion, Projektion seiner Erfahrungen in ein Figurenspiel eine abgeschlossene Geschichte, Allgemeingültigkeit und beispielhafte Bedeutung erreichen, sondern versucht möglichst realitätsnah zu schreiben, mit Aufmerksamkeit für die Störungen, Abweichungen, das Unauffällige, die Umwege, also den Widerstand der Realität gegen das vorschnelle Sinnbedürfnis."

An die Stelle des Allgemeinen, des Großen und Ganzen trete das Partikulare und Besondere, die Mono- oder auch Multiperspektivik - auf jeden Fall aber der völlige Verzicht auf Auktorialität, damit auf Erklärungs- und Deutungsmonopole. "Dargestellt", so Wellershoff weiter in diesem kurzen Essay, eigentlich nicht mehr als einem knappen Statement, dem sich seinerzeit jedoch eine ganze Reihe junger Autorinnen und Autoren verpflichtet fühlten (von R. D. Brinkmann über Nicolaus Born bis zu Günter Seuren oder Günter Herburger), "wird eine Welt im Zustand der Unruhe, die sich im Prozeß befindet und nicht überschaubar, fertig und verfügbar ist."

Die Nagelprobe hierauf hat Wellershoff dann in seinem gesamten literarischen Oeuvre, aber auch mit den Medienarbeiten geliefert. Und an vorderster Front steht immer der Mensch mit und in seinen Beziehungen, der Liebeswahn und -wunsch, die Gefährdungen des (Alltags-)Lebens, die Normalität im Wechselspiel mit ihren Verrückungen, dunklen Unterseiten und Idiosynkrasien.

Vielleicht ist es tatsächlich so, dass, nachdem die Beziehungsalgebra (samt -metaphysik) durchgerechnet und -dekliniert, alle sexuellen Spielarten diesseits der Liebe und jenseits aller Lüste erkundet worden sind, bloß noch Schwundstufen der Sexualität, Reduktionen des Eros und Pervertierungen von Beziehungsmustern übriggeblieben sind - mindestens gegenwärtig. Das würde - mit Wellershoff - die weite Verbreitung und anhaltenden Diskussionen über das Phänomen eines obsessiven Onanisten wie Houellebecq einerseits oder auch das langjährige Verbot und die Ereiferung über das Porträt eines perversen Nihilisten in American Psycho von Ellis andererseits erklären. Kalkuliert - und zwar äußerst raffiniert - sind beide demonstrierten Haltungen. Spielen sie doch im ästhetischen Raum des Romantextes, vorgeführt im Stil einer "negativen Dialektik", eine letztmögliche Alternative durch: die Erklärung des "Glücks- und Erfolgsprogramms der herrschenden Kultur, das sich mit einem letzten Schub in den sechziger und siebziger Jahren auf breiter Front gegen die traditionelle bürgerliche Verzichtsmoral des 19. Jahrhunderts durchgesetzt hat, zu einer inhumanen Ideologie ..., die einen dunklen Untergrund von Unglück erzeugt und es zugleich durch den Talmiglanz einer umfassenden Selbstwerbung verbirgt."

Wellershoffs neue Erzählungen umkreisen einmal mehr diese Beziehungsalgebra - darunter in drei umfangreicheren Texten von 50 bis 70 Seiten Länge -, und sie handeln überwiegend von älteren und alternden Menschen, Männern und Frauen, die sich an Stationen ihres Lebens- und Liebesgeschicks erinnern, die versuchen, die komplizierten privaten Dramaturgien und Beziehungskonstellationen zu ordnen oder auch verstehen zu wollen, und die sich nicht zuletzt daran abarbeiten, die "Dunkelheit des gelebten Augenblicks", wie es in einer von Wellershoff geschätzten Formulierung des jungen Ernst Bloch heißt, aufzuhellen. Oder, wie Wellershoff in Das Sommerfest, der längsten Erzählung, an einer Stelle selbst schreibt: "Wie es zu Hause war, wußte man nicht. Das Private war eine Dunkelkammer. Nicht immer nur für die anderen. Die Dunkelkammer der Sprachlosigkeit."

Ja, dieses normale Leben steht auf dem Prüfstand, wird, wie zum Beispiel in der Titelgeschichte, bilanziert: da finden sich die verschiedenen Beziehungen zu Frauen, Krankheiten und Tod, da ist ferner von der Konfrontation mit einem 26jährigen Selbstmörder die Rede, dessen Tagebuchaufzeichnungen der alternde Protagonist zur Durchsicht erhält und nach deren Lektüre er wieder einmal bestätigt wird in seiner lebensphilosophisch-existenzialistischen Sicht der Dinge: "Leben ist der Wert schlechthin. Alle anderen Werte sind davon abgeleitet."

Sollte man das Ende dieser Geschichte schließlich nicht gar als Lebensmaxime, als Quintessenz auch aller anderen Wellershoffschen Geschichten lesen?! Nämlich aus Einsicht in die Begrenztheit des Lebens überhaupt, und des eigenen allzumal, nichtsdestotrotz unbeirrt gerade deshalb an ihm festzuhalten: "Er stand, umgeben von Stille, in diesem Gedankenwirbel, der ihn aufwühlte, aber sich allmählich von selbst ordnete. Er war ein alter Mann, der auf Abruf lebte, versehen mit der Weisung, noch einmal und solange es ging in sein normales Leben zurückzukehren. Wie auch immer es lief: Er hatte Grund, das zu feiern."

Die Werke Wellershoffs werden im Kiepenheuer und Witsch-Verlag verlegt, darunter auch eine sechsbändige Werkausgabe. In diesem Herbst ist der Erzählband erschienen: Das normale Leben. Erzählungen. Köln, Kiepenheuer und Witsch, 2005. 305 S., 18,90 EUR

Zum Wellershoffschen Werk allgemein: Werner Jung: Im Dunkel des gelebten Augenblicks. Dieter Wellershoff - Erzähler, Medienautor, Essayist. Erich Schmidt, Berlin 2000, 413 S., 39,80 EUR


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