Vaterland der Kindheit

Niemandsland Ralf Rothmanns neuer Roman "Junges Licht"

Nach einem kurzen Ausflug ins Berlin der neunziger Jahre in seinem letzten Roman Hitze (2003) ist Ralf Rothmann mit Junges Licht wieder dahin zurückgekehrt, von wo er 1991 mit dem preisgekrönten Roman Stier und Nachfolgebänden wie Wäldernacht oder Milch und Kohle aufgebrochen ist: nach Oberhausen-Sterkrade, mitten ins Herz und Zentrum des alten Reviers.

Ja genau - in das alte, aus Schloten stinkende, verschmutzte Ruhrgebiet mit der Diversifizierung und den Bemühungen, für ein gesundes Klima - frische Luft in Parks und Erholungsgebieten - zu sorgen. Bei Rothmann werden wir erneut in die Zeit Mitte bis Ende der sechziger Jahre geführt: der Vater (wie alle Väter) auf dem Pütt, die Mutter auf ungeklärte Weise mal krank, dann frustriert, die Kinder erleben eine mehr oder minder unbeschwerte Kindheit und Jugend auf dem engen Rayon zwischen Vor- und Schrebergarten, der Bude an der Ecke und den vielen Versteckmöglichkeiten.

In diesem Roman heißt der Protagonist Julian, ist zwölf Jahre alt, noch Kind und doch schon - irgendwie - hart an der Pubertätskante. Wenigstens löst Marusha, die fünfzehnjährige, frühreife Tochter der Hausbesitzersfamilie Gorny, die nicht nur ihrem Jonny, sondern auch noch Julians Vater samt Kumpeln reihenweise nicht bloß den Kopf verdreht, gewisse Begierden und Begehrlichkeiten aus. Allein, wenn man bloß wüsste, wie´s geht?

Das Schönste an Rothmanns neuem Roman ist die strikte Beschränkung auf dieses Niemandsland der Gefühle eines Zwölfjährigen, aufs vage Zwischenreich des Nicht-Mehr und Noch-Nicht im Übergang von der Kindheit ins Erwachsenenalter. Paradox formuliert: bei Rothmanns Realismus erfährt der Leser alles, denn der Erzähler hält die Perspektive des Jungen konsequent bei, und dennoch bleiben die Lücken und leeren Stellen umso größer, weil nur der Leser ergänzen und verstehen kann, was dem Jungen noch verschlossen ist. Sei es das Verhältnis zu Marusha oder sei es der pädophile Herr Gorny, der Julian im Keller näher zu kommen versucht, oder gar - war da denn was? - die Beziehung der Eltern zueinander und - was war da? - diejenige Marushas zu Julians Vater.

"Die Welt ist weit und doch wie das eigene Haus", heißt es eingangs von Georg Lukács´ Theorie des Romans; es ist dies eben die Welt der Kindheit: hell, klar, übersichtlich und eng, dabei zugleich wieder an jeder Ecke neu und abenteuerlich, verführerisch. Auch und gerade in Sterkrade, erst recht während der sechziger Jahre und noch bevor die Republik (mit den bekannten Daten) nachhaltig eine andere geworden ist. Zum Beispiel im Bauhaus jener Kleekamp-Bande, zu der Julian doch so gerne gehören möchte: "Vor dem Eingang befand sich eine kleine Plattform, darauf ein Kasten voll verdorrter Wicken, und an dem Vorhang, einer löcherigen Wolldecke, hing ein Pappschild mit der Aufschrift: ›Wer hier reinget ist Tod.‹" Innen dann die leeren Bierflaschen, eine Nummer der St.- Pauli-Nachrichten: "Fast alle Frauen hatten Brüste wie Frau Latif, unsere Kunstlehrerin, die einen manchmal damit berührte, wenn sie sich herunterbeugte, um etwas zu verbessern. Das Papier färbte mir die Fingerspitzen."

Rothmanns Prosa und deren Poetik sind beide ungeheuer dicht; er erzählt geradeheraus und unverschwiemelt, ja mit müheloser Leichtigkeit und geradezu altbackener Naivität an der Postmoderne (samt dekonstruierender Belesenheit) vorbei.

Ralf Rothmann: Junges Licht. Roman. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2004, 236 S.,
19,80 EUR


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