In einem Text seiner neuen Essaysammlung, die Gelegenheitsarbeiten aus den letzten 18 Jahren zu einem Sammelband zusammenfügt, erzählt István Eörsi von Begegnungen mit dem Freund Miklos Krasso. Dieser Krasso ist ein ebenso liebenswert-versponnener wie besessen die Philosophiegeschichte verteidigender linker Intellektueller und Parasit, worunter Eörsi die Figuren des Weisen und des Heiligen versteht. Eörsi lässt den Freund ein Gedicht von Attila Jozsef rezitieren, das mit den Zeilen endet: "Hast heut gehungert, nichts verdient,/ Den ganzen Tag auf eine neue Welt gelauert." Das sei seine eigene Situation, sagt Krasso und fügt hinzu: "Wenn jemand Geld verdienen will, muss er sich in die Gesellschaft einfügen. Wenn er sich aber einfügt, dann kann er nicht recht haben. Und wenn er nicht recht hat, mit welchem Recht lauert er dann auf eine neue Welt?".
Der 1931 in Budapest geborene Schriftsteller, Dramatiker und Essayist, der wegen der Teilnahme am Ungarn-Aufstand 1956 zu acht Jahren Haft verurteilt und schließlich 1960 amnestiert wurde, zeichnet hier zwar das Porträt eines Freundes aus frühen Tagen, doch kann man den Text auch als Parabel lesen. Denn er mag einstehen für Eörsis intellektuelle Entwicklung wie auch - insgesamt - für jene kritischen Linken Ungarns, die sich als Schüler Georg Lukacs´ - und Bekenntnisse zu seinem Meister, aber auch scharfe Abrechnungen mit ihm legt Eörsi an vielen Stellen seines Buches vor -- 1956 für Imre Nagy engagiert und einem libertären Sozialismus das Wort geredet haben. Einem libertären Sozialismus, der weder durch den Kadarismus der Nachfolgezeit noch nach dem Ende des real existierenden Sozialismus vom Kapitalismus korrumpiert worden ist.
Sie haben - schwierigste Gradwanderung - ihre Ideale kontrafaktisch zur wie auch immer bestellten und entfremdet-verdinglichten Gesellschaft bewahrt, sind misstrauisch geblieben und haben sich, wie Eörsi, dessen Texten man diese Grundhaltung auf Schritt und Tritt ansieht, zwischen den Stühlen platziert. Dort haben sie mal fröhlich, mal sarkastisch, aber niemals zynisch einen ironischen Gestus (a la Richard Rorty) mit einem kritischen, durchaus noch marxistisch tangierten Impuls zu verbinden gewusst.
Diese lustvolle Kopulation lässt dann aus Eörsis Feder Texte fließen, die Rückblicke auf und in die ungarische Geschichte des 20. Jahrhunderts veranstalten, Interventionen zur aktuellen Politik und Zeitgeschichte (etwa dem Bosnien-Krieg, der Terrorismusproblematik) darstellen und auch biographische Reminiszenzen (das jüdische Elternhaus) umfassen. Auf nachgerade liebenswert störrische Weise behauptet Eörsi die Einheit von Freiheit und Sozialismus, von Individualität und Kollektivität zugleich; in "Systemzeiten" hätte man jetzt gesagt: Er verteidigt das bürgerliche Erbe, auf das kein Sozialismus mit Anspruch auf Glaubwürdigkeit verzichten kann.
Als wahrhafter und würdiger, aber eben auch ironischer Lukacsianer (welch seltene Mischung!) berichtet Eörsi im Vorwort seines neuen Bändchens von einem Tagtraum, in dem der verehrte Lehrer wieder auf die Erde heruntergestiegen ist und seinen Schüler in einen Disput über Gott und die Welt, das Ende des Sozialismus und andere Utopien verstrickt. Zum Ende der Traumnotate heißt es dann:. "Dann müssen wir also anderswo, zu einer anderen Zeit und auf andere Art neu beginnen. Es schauderte mich, erneut stand ich im offenen Fenster. Wovon sprechen Sie? Lukacs fixierte mich und stieg dann zusammen mit Schreibtisch und Bücherregal gut zweihundert Meter höher. Was muß man neu beginnen? insistierte ich. Na, was wohl? fragte er zurück. Sie glauben noch immer an die klassenlose...? Lukacs presste den Zeigefinger an seine Lippen. Was?! rief ich aus. Auch oben dürfen Sie nicht wirklich frei sprechen? Daraufhin begann er zu lächeln und hob mit seinem Vortrag über das Zurückweichen der Naturschranken an. Dann verschwand er ... in der Höhe."
Was war das? Spricht hier lediglich ein Geist solange aus der Flasche, bis diese leer und der Kopf benebelt ist, oder kann und soll man auch diesen Text wiederum parabolisch weiten: dass nämlich die Wahrheit immer kritisch, also missliebig ist und daher selbst noch im Paradies von den himmlischen Heerscharen misstrauisch beäugt wird. Letzteres wohl. Mithin: fortwährender Stoff für Essayisten und Ironiker, jene "Geister- und Götterleugner" (Jean Paul), deren Aufgabe - jetzt mit dem ganz jungen, vormarxistischen Georg Lukacs gesprochen - in Folgendem besteht: "Der Essay ist ein Gericht, doch nicht das Gericht ist das Wesentliche und Wertenscheidende (...), sondern der Prozess des Richtens."
István Eörsi: Der rätselhafte Charme der Freiheit. Versuche über das Neinsagen. Suhrkamp 2003, 197 S., 10 EUR
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