Sascha Vogt bemängelt zu Recht das Fehlen einer Leitidee für eine gemeinsame Arbeitsmarktpolitik von SPD, Grünen und Linkspartei. Will man diese entwickeln, muss man sich zuerst über den Stellenwert klar werden, den die einzelnen Parteien der Arbeitspolitik zumessen. Der ist durchaus unterschiedlich.
Für Sozialdemokratie und Gewerkschaften, gleiches gilt für die Linke, ist Arbeitspolitik bis heute das zentrale gesellschaftspolitische Thema. Wohlstand, soziale Sicherheit und Teilhabe hängen von der Zugehörigkeit zur Arbeitswelt ab. Nicht mehr alle – aber die meisten – Sozialdemokraten vertreten nach wie vor das Ziel der Vollbeschäftigung. Dafür müsse die Politik die Rahmenbedingungen für nachhaltiges Wachstum schaffen. Wenn die Wirtschaft wieder wachse, gebe es Arbeit, die Menschen hätten Einkommen, der Staat könne durch sozialpolitische Maßnahmen und die Gewerkschaften durch Tarifverhandlungen zu mehr sozialer Gerechtigkeit beitragen. Dieses Credo des rheinischen Kapitalismus ist aus sozialdemokratischen Köpfen offenkundig nicht zu verdrängen. Dogmen überleben die Wirklichkeit. Nur die Grünen sind weniger auf dieses traditionelle Konzept festgelegt.
Eine Verständigung über die gemeinsame Leitidee einer künftigen Arbeitspolitik muss das bisherige sozialdemokratisch-gewerkschaftliche Konzept kritisch hinterfragen, ja revidieren. Einige Änderungen an den Hartz-Gesetzen und eine Re-Regulierung des Arbeitsmarktes – so notwendig beides ist – werden nicht ausreichen. Die Scheidelinie der sozial- und arbeitsmarktpolitischen Diskussion zeigt sich an folgender Alternative: Liegt der normative Bezug und das Ziel der Arbeits- und Sozialpolitik darin, die Menschen umfassend in ein System ökonomischer Rationalität zu fügen, ihre Fähigkeiten und Energien für das System der Erwerbsarbeit optimal zu aktivieren und zu mobilisieren ? Oder: Steckt der Sozialstaat den politisch-moralischen Rahmen ab, damit Menschen ihr Leben in Autonomie und nach eigenen Zielen verwirklichen können – auch wenn diese nicht mit den Zielen der Ökonomie und speziell dem System der Erwerbsgesellschaft übereinstimmen?
Den Kern der Hartz-Politik bildet das Konzept des „Arbeitskraftunternehmers“. Dieses trat an die Stelle einer sozialpolitischen Idee, die davon ausging, dass der Verlust des Jobs ein individuelles Risiko darstellt, das gesellschaftspolitisch abgesichert und durch Lohnersatzleistungen gemildert werden müsse. Der Soziologe Stephan Lessenich bezeichnet diesen Paradigmenwechsel mit dem Begriff „neosoziale Politik“.
Marktgemäßes Verhalten
Diese Politik ist Teil einer umfassenden biopolitischen Strategie der Konditionierung für den Arbeitsmarkt. Von der „Wiege bis zur Bahre“ soll sich der Mensch als „unternehmerisches Selbst“ begreifen und betätigen. Schon das Kleinkind soll zum Jungmanager herangezogen werden, der seine Zeit effizient nutzt, statt sie mit Spielen zu vergeuden. Staatliche Institutionen wurden in den vergangenen Jahren konsequent darauf getrimmt, das unternehmerische Selbst dazu anzuhalten, ökonomisch mit den individuellen Ressourcen umzugehen (Verkürzung der Studienzeiten via Bachelor, Erhöhung der Verpflichtung zur Gesundheitsvorsorge etc.).
Das neosoziale resp. neoliberale Konzept begreift den Menschen als ein Wesen, das seine Freiheit und Bestimmung über rationales und marktgemäßes Verhalten erlangt. Die Freiheit des Menschen ist danach die Freiheit, sich für den Markt herzurichten. Der Mensch wird auf seine Rolle als „Arbeitskraftunternehmer“ und als Konsument reduziert. Sascha Vogts Vorschläge, die sich weitestgehend auf der instrumentellen Ebene bewegen, lassen kein Gegenkonzept dazu erkennen.
Würde und Autonomie
Ein alternatives Leitbild muss von einem normativ fundierten Verständnis ausgehen, das den Menschen als ein Wesen sieht, das mit dem unveräußerlichen Recht ausgestattet ist, sein Leben in Würde, Autonomie und Selbstbestimmung in Gemeinschaft mit anderen zu führen. Ziel kann dabei nur die soziale Freiheit sein, also das Recht eines jeden zur eigenen Lebensgestaltung und unabhängig von seinem ökonomischen Nutzen. Die soziale Freiheit will den Menschen aus seiner Einengung auf seine Rolle als Arbeiter und Konsument befreien. Dafür muss eine Linke die dogmatische Fixierung auf Wachstum und Konsum sowie die Verabsolutierung der Erwerbsarbeit überwinden. Hierin liegt die eigentliche Herausforderung für eine solidarische Moderne, die auf der Höhe der Zeit ist und nicht nur ein Make-up der traditionellen Sozialpolitik der siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts darstellt.
Der Sozialökonom Eduard Heimann hat in seiner leider in Vergessenheit geratenen Schrift Soziale Theorie des Kapitalismus 1929 den Doppelcharakter der Sozialpolitik im Kapitalismus herausgearbeitet. Sozialpolitik ist zum einen notwendige Voraussetzung für das Funktionieren des Kapitalismus, da ohne ihre korrigierende Funktion das System längst an seinen eigenen Widersprüchen gescheitert wäre. Zum anderen bleibt die Sozialpolitik immer ein Fremdkörper im Kapitalismus, da dadurch die freie Verfügung über den Kapitalertrag eingeschränkt wird. Heimann spricht in diesem Zusammenhang vom „konservativ-revolutionären“ Charakter der Sozialpolitik. Die soziale Idee triumphiert dann, wenn deren Streben „auf den Menschen als lebendige Einheit und nicht nur auf den Verbraucher in ihm gerichtet ist. Eine außer- und überwirtschaftliche Errungenschaft der Sozialpolitik, ein Zuwachs an Freiheit, Verantwortung und Gestaltungsmöglichkeit braucht sich nicht erst durch günstige wirtschaftliche Wirkungen zu beglaubigen“.
Heimann war ein sozialdemokratischer Politiker, der es gerne praktisch hatte. Versucht man seine Grundgedanken produktiv anzuwenden, bieten sich einige strategisch-politische Projekte an, die dem skizzierten Ziel der sozialen Freiheit verpflichtet sind. Sie sollen zudem verdeutlichen, dass die soziale Freiheit nicht nur parlamentarische Mehrheiten voraussetzt, sondern auch eine gesellschaftliche Bewegung, die für diese Freiheit kämpft.
1 - Als Gegenleistung für die staatlichen Hilfen für Unternehmen muss der Staat die Möglichkeiten der Wirtschaftsdemokratie ausweiten, das heißt die Beteiligung der Arbeiter an „ihrem“ Unternehmen.
2 - Ins Zentrum der tarifpolitischen Strategien der Gewerkschaften muss wieder die Forderung nach Verkürzung der Arbeitszeit treten, um auf diese Weise die Produktivitätsgewinne zur Erweiterung der Autonomie der Beschäftigten zu nutzen.
3 - Die Durchsetzung des gesetzlichen Mindestlohns. Die Trennung der Lohnhöhe von den Marktgesetzen ist ein entscheidender Punkt, um die soziale Idee der Würde des Arbeiters zu verwirklichen.
4 - Die kontinuierliche Ablösung des Bezugs sozialer Leistungen vom Erwerbsprinzip. Dies gilt sowohl für die Aufbringung der Mittel zur Finanzierung sozialstaatlicher Transfers (z.B. Renten- und Pflegeversicherung) wie auch für den Zugang zu Leistungsansprüchen.
5 - Die Bereitstellung von Bildung, Gesundheit, Mobilität, etc. als öffentliche Güter, auf die jede und jeder einen Anspruch hat.
6 - Die Umverteilung von Einkommen und Vermögen mit dem Ziel, dem Staat die Mittel zu geben, die notwendig sind, um die beschriebenen Aufgaben zu erfüllen – und nicht in erster Linie, um das Konsumeinkommen der Privathaushalte zu steigern.
Die skizzierten Projekte verbindet das Ziel, durch Entökonomisierung den Freiheitsraum der Menschen zu erweitern. Die Güterideologie, deren Bestreben es ist, die abhängig Beschäftigten für die Entbehrungen, die sie in ihrer Funktion als Arbeiter hinnehmen müssen, in ihrer zweiten Funktion als Verbraucher zu entschädigen, steht diesem Anliegen heute entgegen. So lange diese Ideologie „funktioniert“, wird es schwierig sein, den Menschen klar zu machen, dass ihre Freiheit nicht in den Gütern sondern jenseits dieser liegt. Die in den obigen Projekten steckende sozialpolitische Strategie ist auf Wachstum nicht angewiesen. Wenn wir auch weiterhin die technischen Möglichkeiten nutzen, die Arbeitsproduktivität im Rahmen humaner Produktionsverhältnisse zu erhöhen, dann um das Arbeitsvolumen kontinuierlich zu senken. Neue Erwerbszeitmodelle werden möglich, und der Spielraum für nichtentlohnte Arbeitsformen, für Eigen- und Gemeinschaftsarbeit wird zunehmen. Neue, nicht auf Erwerbsarbeit bezogene Sicherungsformen (etwa die Grundsicherung) können dann auch diskutiert werden.
Werner Kindsmüller, Jahrgang 1954, war 1981 bis 1986 Vorsitzender der SJD Die Falken und später als Landesgeschäftsführer der SPD in Schleswig-Holstein tätig. Von 2001 bis 2005 arbeitete er u.a. als Planungschef von Ministerpräsident Peer Steinbrück in der NRW-Staatskanzlei. Heute ist er Abteilungsdirektor bei einer Bank in Düsseldorf
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