Neun Leben einer Biographin

Nachruf Zum Tod von Carola Stern (1925-2006)

Mit Biographien kannte sich Carola Stern aus. Ihre eigene war spannungsvoll und widersprüchlich genug und den historischen Biographien galt ihre Leidenschaft als Schriftstellerin. Ohne ein Projekt zu sein, machte sie unruhig. Zu gestalten, zu wirken, sich zu engagieren, war ein Charakterzug. Eine kleine Frau von großem Temperament. Carola Stern schrieb über Fritzi Massary, das Paar Gustaf Gründgens und Marianne Hoppe, die Geschichte der Dorothea Schlegel, das Leben der Johanna Schopenhauer, das Paar Brecht/ Weigel. Ihr Spektrum war weit, aber eines war überall gleich: Carola Stern faszinierte die Unvorsehbarkeit von Lebensgeschichten, ihre Biographien waren voller Neuentdeckungen, so ausgeschritten manches Sujet zunächst auch erschien.

Was Carola Stern in den letzten Monaten auf dem Schreibtisch liegen hatte, verdankte sie Fontane und ihrem Gespür für Schicksale. Fontane hatte sich zu seinem "Fünfundsiebzigsten" ein ironisches Gedicht geschrieben, in dem er seine Verwunderung ausdrückte, wer gekommen und wer nicht gekommen war. Der Adel war beim Fest des Mannes "der märk´schen Geschichte" ausgeblieben. Die Besucher hießen Meyer, Pollack, Israel, und Fontane schloss die Gästeliste mit der burschikosen Wendung "Kommen Sie, Cohn". Carola Stern war darauf gekommen, dass dies mehr als eine Metapher war. Es gab den wirklichen Juden Cohn im Kreis um Fontane, und sie war dabei, seine Lebensgeschichte zu recherchieren. Gelegentlich unterhielten wir uns aus gemeinsamer Neigung für die Biographik über solche Dinge. Im April letzten Jahres klagte sie in ihrer Berliner Wohnung über die "weißen Stellen" in einer Biographie, an der sie gerade arbeite und für die sich kein Material finden lasse. Jetzt bleibt die ganze Lebensgeschichte des Juden Cohn ungeschrieben.

Carola Stern, 1925 im Seebad Ahlbeck auf Usedom als Erika Assmus geboren, erlebte 80 Jahre deutscher Geschichte. Eine deutsche Biographie vor diesem Hintergrund ist eine Biographie voller unangenehmer Wahrheiten. Carola Stern nahm einen langen Anlauf für ihren eigenen Bericht, aber als sie es 2001 mit der Autobiographie Doppelleben tat, war dies ein Report ohne Kaschierungen. Die das junge Mädchen nicht unberührt lassenden Nazi-Phrasen hielten sie 1945 nicht von der Einsicht, ab "dass ein völliger Neubeginn notwendig war". Nur, was ist das? Die Amerikaner machen die junge Frau zur Alliierten gegen einen ehemaligen Alliierten. In den Nachkriegswirren kommt sie im ehemaligen "V-Waffen"-Werk Bleicherode als Bibliothekarin unter. Die Amerikaner werben sie als "Spionin" an, um zu erfahren, wie weit die Russen mit der Auswertung deutscher Forschungsergebnisse sind. Sie tritt in einer Mischung aus Kalkül und gesellschaftlicher Hoffnung in die SED ein und gelangt auf die Parteihochschule der SED. Ihre Situation ist hochgefährlich und das Gefühl der inneren Zerrissenheit unerträglich. Ehe Erika Assmus in ihrem "Doppelleben" versinkt, flüchtet sie 1950 nach Westberlin. Jetzt kann sie Schritt für Schritt einen neuen Weg gehen. Erika Assmus legt sich das Pseudonym Carola Stern zu. Sie ist wissenschaftlich tätig, als Lektorin, als Publizistin, gründet mit Gerd Ruge die deutsche Sektion vom Amnesty International, mit Böll und Grass die Zeitschrift L 76 und ist seit 1972 Mitglied des P.E.N.-Zentrums der Bundesrepublik Deutschland. Die schwierige Vereinigung der beiden deutschen Zentren gestaltet sie mit Umsicht mit. Bis zuletzt sieht man die Ehrenpräsidentin auf den Jahresversammlungen, eine zierliche, alte Frau die den Gehstock benutzt. Sie vermochte auf manches Glück zurückzuschauen. Als ihr größtes rechnete sie die Ehe mit dem ehemaligen Kommunisten, ehemaligen Chefredakteur des Sonntag, ehemaligen Häftling des Zuchthauses Bautzen, Heinz Zöger, der 1957 wegen "staatsfeindlicher Hetze" verurteilt worden war. Heinz Zöger ist vor Carola Stern gestorben.

Carola Stern sagte einmal, sie habe eigentlich neun Leben gelebt, "auf der Suche nach einem Vaterland der Liebe und Gerechtigkeit" Als es nach 1989 möglich war, wurde sie wieder eine Usedomerin. Sie besaß ein kleines Haus in Balm. Dort erwartete sie den Jahreswechsel und eine Freundin. Sie traf sie fiebernd. Carola Stern ist am 19. Februar in einer Berliner Klinik gestorben. Sie hat einen Umgang mit Biographie gelebt.


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