Alles sollte beim »Außerordentlichen Kongreß« am 1. März 1990 anders sein als bei allen vorigen Kongressen des DDR-Schriftstellerverbandes. Nur der Tagungsort sollte traditionell bleiben, nämlich die Kongresshalle am Berliner Alexanderplatz. Doch in der Nacht vor der Eröffnung drückte ein Sturm ihre Frontscheiben ein. Der Kongress musste zur Arbeiterklasse. In Lichtenberg verfügte Berlins größte Dreckschleuder, der »VEB Elektrokohle«, über ein großes Kulturhaus. Es war ein alter Ort literarischen Hochmuts. 1950 hatte sich hier der Maurer Hans Garbe in einem Ringofen als Aktivist ausgezeichnet. Ein Jahr später machte Eduard Claudius daraus die neue, von der Partei beschworene Literatur. Garbe trat als Hans Aehre in »Menschen an unserer Seite« als »zeittypischer Held« auf. Das Kulturhaus im Dekor der Stalin-Allee war ein Stück kulturellen Rücklaufs. In seiner Tristesse war ich einmal zu einem unfreiwilligen »Facharbeiter« geprüft worden. Nie wieder hatte ich hierher zurückkommen wollen.
Auf dem Kongress ging es um die DDR-Literatur, das Land, die Abrechnung mit dem Verband, um die mit Hermann Kant, um sieben Statutenentwürfe, dass das »Unersetzliche« unser Thema bleiben würde. Der amtierende Chefredakteur der NDL, Walter Nowoljski, hoffte auf eine Gunstbezeugung der Stunde und entwarf die Neugestaltung der Verbandszeitschrift. Rhythmisches Klatschen unterbrach ihn. Sein Schicksal war klar. Aber das der Zeitschrift? Der neue Vorsitzende, Rainer Kirsch, sagte in seinem Schlusswort: »Die Zeitschrift Neue Deutsche Literatur gilt es ...«, dann stockte er. Protokoll des 3. 3. 1990: »... jetzt ist mir das Verb entfallen, hilft mir jemand? - (Zurufe: erhalten!) - zu erhalten. (Beifall.)«
Ihre fünfzigjährige Geschichte begann im Herbst 1952 unter Willi Bredel mit einem Sonderheft zum 35. Jahrestag der Oktoberrevolution, das der Kunsttheorethiker Stalin dominierte. In der ersten regulären Nummer Januar 1953 war er der, »den jeder vergleicht mit dem Nächsten und Höchsten«. Das April-Heft betrauerte seinen Tod. Der Weg der NDL zur »Literatur« war mühsam. Dem emanzipatorischen Niveau, das die DDR-Literatur bis 1989 erreichte, kam sie nahe, trieb es aber nicht eigentlich voran. Dass sie etwa 1965 den später vom 11. Plenum verdammten Roman Rummelplatz Werner Bräunigs druckte, geschah guten Parteiglaubens. Niemand war vor jähen Wendungen der Parteilinie gefeit und viele wurden unfreiwillig Dissidenten. Chefredakteur Joho flog und die Redaktion wurde umgebaut. Ihre anhaltende Fluktuation war ein Ausdruck der ständigen, sehr verschiedenen Unzufriedenheit mit der NDL, die Verbandsvorsitzenden Seghers und Kant eingeschlossen. Sie beklagten häufig ihre »Langweiligkeit«. In den Kulissen und Archiven, »Gauck« darunter, schlummert reiches Material über minimalistische Auseinandersetzungen. Ein Redakteur, der nach vorn wollte, Heinz Plavius, wurde zu Tode verschlissen. Und vergessen. Ein Redakteur, Achim Roscher, war von 1954 dabei.
Im neuen Verbandsvorstand ging es im März 1990 um die Chefredaktion. Die stellvertretenden Vorsitzenden winkten ab. Der eine, Joachim Walther, veröffentlichte später das Handbuch Schriftsteller und die Stasi, der andere, Bernd Jentzsch, wurde Direktor des Leipziger Literaturinstitutes. Die Wahl fiel eines Tages auf mich. Eine literarische Literaturzeitschrift ohne Zensur zu machen, war jetzt keine Kunst mehr. Sie zu finanzieren um so mehr. Zwei Drittel der Summe für den alten Verband war aus dem Staatshaushalt gekommen. Was jetzt zu erwarten war, tendierte gegen Null. Die NDL erschien nominell im Aufbau-Verlag. Wenn es nicht gelang, ihn in die Pflicht zu nehmen, musste sie eingestellt werden. In der Redaktion wurden acht Gehälter bezahlt. Ich behielt Christian Löser, erfahren in der Lyrik wie in der Organisation einer Zeitschrift und Achim Roscher, der alle kannte wie ihn alle kannten. Löser machte wie im 19. Jahrhundert die Manuskripte mit der Hand für die Druckerei zurecht. Die Zeitschrift brauchte nun Schmackes. Unser ABM-Redaktionssekretär aus dem Prenzlauer Berg klopfte viele Male an eine Tür in seiner Nachbarschaft, bis endlich Ibrahim Böhme öffnete. Böhme verstand sich als literarischer Enthusiast. Aber zu einer gewissen Verwunderung war, was er im Herbst 1990 über die »Politische Dimension« der »DDR«-Literatur sagte, durchaus kein Firlefanz. Der Ostberliner Polizeibeauftragter des Magistrats, Böhme, lud mich nach dem Interview mit ihm zu einem Essen in den nächsten Tagen ein. Doch als seine IM-Tätigkeit bekannt wurde, öffnete er keine Tür mehr.
Am Ende nervenzehrender Wochen nahm Verlagsdirektor Elmar Faber die NDL in den Aufbau-Verlag. Nichts sprach dafür und niemand in seinem Haus. Es war ein Ritt über den Bodensee. Nur ohne Pferd und Eis. Die Redaktion brachte zur Risikominimierung Schreibpapier aus dem Keller des Verbandshauses in der Friedrichstraße mit. Die Wende zeigte ihre Kuriositäten. In einer Ecke lagerte ein großer Stapel Porträtpostkarten von de Bruyn, Gotsche, Hacks, Jentzsch, Wiens, aus den sechziger Jahren. In der Zeitschrift praktizierte man, dass zu einer wirklichen deutschen Neuvereinigung die Erfahrungen beider Territorien gehören. Im November 1991 meinte der Freitag, »keine andere Zeitschrift kümmert sich derzeit so intensiv um die avancierte deutsche Gegenwartsliteratur wie die ndl«, und dass sie mit dem Mut der Verzweiflung gemacht werde. Bernd Lunkewitz, der den Verlag 1992 übernahm, ließ mit spitzer Feder rechnen. Im Herbst war die Zeitschrift neu bedroht. Entsprechend ihrer Rolle regte sich heftiger Wendewiderstand drinnen und draußen. Darunter die beiden deutschen PEN Zentren und zahlreiche Autoren von Johannes Mario Simmel bis Christa Wolf. In der Süddeutschen fragte Joachim Kaiser »NDL kaputt - na und?«. »Es wäre ein großer Verlust nicht nur für die Autoren und Redakteure, sondern für den intellektuellen Selbstfindungsprozess unserer Nation, ja, für den Geist unserer Zeit, falls sie verschwände«. Die Redaktion verabredete, sich gemeinsam mit einer nachhaltigen Nummer 12/92 zu verabschieden. Dann hatten die Bemühungen der Redakteure um Geld Erfolg. Der Deutsche Literaturfonds in Darmstadt stellte Anfang November eine bedeutende Summe zur Verfügung und nun gab auch der Berliner Kulturfonds etwas dazu. Die Umstände bestätigten die Zeitschrift, nicht ihren Redakteur. Es war mit dem neuen Verlag eine Trennung im Streit. Roscher ließ sich die Leitung übertragen. Er hatte sie bis 1995 inne, und es war eine gute Zeitschrift. Dann kam auf, dass er jahrzehntelang der IM »Achim« gewesen war und die Leser beim MfS mit allem Erreichbaren bedient hatte.
Von den sich fremden Ost- und Westwesen des Jahres 1992 ist anzunehmen, dass sie heute besser könnten. Ich jedenfalls erfreute neulich den Verleger Lunkewitz mit einer Parteifahne des Verlages Rütten und Loening für seine Kuriositätenwand und der Verleger mich mit dem Buch Trost der Töne. Musik und Musiker im Leben Goethes von Udo Quak aus seinem Hause. Die Neue Deutsche Literatur hat es geschafft, fünfzig zu werden. Ältere Jubilare haben es gern harmonisch.
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