Wollen wir uns das wirklich entgehen lassen? 2,19 Prozent mehr Lohn, eine 0,43 Prozentpunkte niedrigere Arbeitslosenquote und ein Bruttoinlandsprodukt, das um 4,7 Prozent wächst? So lauten die Versprechungen für den Fall, dass die transatlantischen Freihandelsabkommen TTIP und CETA in Kraft treten. Die SPD hat sich diesen Verlockungen hingegeben. Ein Parteikonvent stimmte in dieser Woche mit überwältigender Mehrheit für CETA. Er bewahrte den SPD-Vorsitzenden Sigmar Gabriel damit vor einer blamablen Niederlage. Schließlich hatte Gabriel sein ganzes politisches Gewicht für CETA in die Waagschaale geworfen. Ob die Änderungswünsche, die die SPD auf dem Konvent verabschiedete, jemals Wirklichkeit werden, steht auf einem anderen Blatt. Papier ist geduldig, ebenso eine Partei, die um ihren Kanzlerkandidaten fürchten muss.
Aber das eigentliche Problem mit CETA liegt ganz woanders, und es ist erstaunlich, dass dieser Umstand in der Debatte überhaupt keine Rolle spielt. Denn die simple Überlegung hinter den Wohlstandsprophezeihungen ist die: Wenn Zölle wegfallen, dann lohnt es sich, die ganze Produktion hüben oder drüben zu konzentrieren und dank höheren Stückzahlen niedrigere Stückkosten zu erzielen. Die Preise sinken, die Leute können mit ihrem Geld mehr kaufen und schaffen damit neue Jobs.
Ähnliche Überlegungen gelten für den Wegfall nichttarifärer Handelshemmnisse: Wenn die Produkte nur noch an einem Ort zugelassen werden müssen, spart das administrative Kosten und Personal. Es kann anders sinnvoller eingesetzt werden. Am Ende addieren sich derartige Effekte dann zu einer stattlichen Wachstumsprognose. Doch bei aller Mathematik: Das Ergebnis hängt letztlich nur von den getroffenen Annahmen ab. Die wichtigste davon unterstellt erstens, dass Unternehmen alle Kostenvorteile über niedrigere Preise an die Kunden abgeben, und zweitens, dass diese die zusätzliche Kaufkraft für Konsum nutzen. Was ist aber, wenn die Unternehmen ihre höhere Produktivität lieber in Profit ummünzen? Wenn sie zu diesem Zweck CETA nutzen, um zunächst die Konkurrenz jenseits des Atlantiks aufzukaufen, um so – als Monopolist – die Preise zu erhöhen? Trifft diese Annahme zu, führt eine höhere Produktion nicht zu mehr Konsum, sondern zu mehr Arbeitslosigkeit. Unternehmer freut das, denn sie haben dadurch die Chance, ihre Lohnkosten zu senken.
Laien wissen, welche Annahmen plausibler sind. Sie erfahren es am eigenen Leib. Den Ökonomen in ihren geschützten Denkstuben fehlt dieser Erfahrungsschatz. Ihnen hilft vielleicht die Erinnerung an den Cecchini-Report der EU-Kommission. Der kam 1988 zum Schluss, dass der europäische Binnenmarkt ab 1992 dank verschärfter Konkurrenz zu einem Wachstumsschub von 5 bis 8,6 Prozent in der EU führen würde. In Wirklichkeit aber hat sich das Wachstum nach 1992 nicht beschleunigt, sondern deutlich verlangsamt. In den zehn Jahren vor 1992 ist Deutschlands Pro-KopfWachstum im Schnitt um 2,6 Prozent im Jahr gestiegen. Nach 1992 dann nur noch um durchschnittlich 1,2 Prozent.
Dieses bisschen Wachstum ist zudem längst nicht mehr, wie einst, allen zugutegekommen. Das Einkommen des Durchschnittsdeutschen ist zwischen 1991 und 2005 um elf Prozent und das der ärmeren Hälfte gar um 33 Prozent geschrumpft. Im Gegenzug sind die Profite der Unternehmen markant gestiegen: Dank gesunkener Lohn- und Steuerquote erzielen sie heute Gewinne in einer Größenordnung, wie sie früher undenkbar gewesen wäre.
Für Wirtschaftshistoriker kommt dies nicht überraschend. Sie wissen, dass die extreme Arbeitsteilung, zu der wir Menschen fähig sind, uns nur deshalb zu Wohlstand verholfen hat, weil wir deren Kehrseite – die hohe Abhängigkeit und den Kontrollverlust – in Schach gehalten haben. Abhängigkeit schafft Ausbeutung, Ausbeutung zerstört das Vertrauen und so das Fundament einer arbeitsteiligen Gesellschaft. Wirtschaftsgeschichte ist deshalb eine Historie der Institutionen: Zünfte, Gewerkschaften, Gerichte, Sozialstaat. Wohlstand ist eine Frage der richtigen Institutionen.
Die neoliberale Ökonomie kann damit nichts anfangen. Sie ist geistig im ausgehenden 18. Jahrhundert stecken geblieben und steht immer noch unter dem Eindruck des gewaltigen Produktivitätsfortschritts, den damals der Übergang vom Handwerk zur Industrie möglich gemacht hatte. Wohlstand kommt vom Handel, meint sie. Doch das Zeitfenster, in welchem dies halbwegs richtig war, ist längst geschlossen.
Allein die Tatsache, dass die Konjunkturhoffnungen heute ausschließlich auf der Zinspolitik der Notenbanken ruhen, zeigt, wie schwach die Institutionen, die uns schützen sollten, geworden sind. Ein weiteres Indiz ist die Tatsache, dass die Verhandlungen zu TTIP und CETA nicht von den gewählten Regierungen, sondern von der EU-Zentrale geführt werden.
Es stimmt schon: Die Globalisierungsgegner haben weder die CETA- und TTIP-Verträge noch die einschlägigen Gutachten gelesen. Doch das müssen sie auch nicht. Wichtig ist nur, dass sie begriffen haben, dass unsere wirtschaftliche Zukunft nicht von weiteren Skalenerträgen abhängt. Sondern von den Institutionen. Wir müssen die Kontrolle über unser Schicksal zurückgewinnen. CETA steht für das Gegenteil. Da hilft auch Sigmar Gabriels Kosmetik nicht.
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