Sollen wir? Sollen wir nicht? Die Verhandlungen über das Freihandelsabkommen zwischen den USA und der EU geben wieder einmal Anlass zu grundsätzlichen Auseinandersetzungen. Dabei ist interessant zu beobachten, welche Gesichtspunkte dabei im Vordergrund stehen. Da ist zunächst der rein merkantilistische Aspekt: Wer zieht wen über den Tisch? Können die Amerikaner das Vertragswerk nützen, um uns Europäer mit ihren Produkten und Dienstleistungen zu „überschwemmen“? Die Franzosen etwa fürchten um ihre Film- und Unterhaltungsindustrie, die deutschen Landwirte um ihre umweltfreundlichen, aber teuren Bio-Produkte, und Europas IT-und Softwarebranche fühlt sich – der marktbeherrschenden Stellung des Bürosoftware-Giganten SAP zum Trotz – ohnehin immer in die Enge gedrängt.
Solche Befürchtungen sind jedoch zumindest von europäischer Seite nicht berechtigt. Wenn hier jemand jemanden überschwemmt, dann die EU die USA und nicht umgekehrt. Deutschland etwa hat 2013 Waren und Dienstleistungen im Wert von 88 Milliarden Euro in die USA aus-, aber nur 38,4 Milliarden Euro eingeführt. Das sind Welten. Dass viele Europäer dennoch „Wettbewerbsnachteile“ befürchten, ist die Folge einer jahrzehntelangen Gehirnwäsche, mit der man uns einzubläuen versucht, dass unser Wohlstand von der „Wettbewerbsfähigkeit“ abhängt, sprich von der Fähigkeit, mehr zu exportieren als zu importieren.
Einverstanden: Die Verhandlungen um die TTIP (Transatlantic Trade and Investment Partnership) sind als Match angelegt: EU gegen USA. Das mag nationale Emotionen schüren. Wichtiger ist aber der Gegensatz zwischen den weltweit tätigen Multis und den mittelständischen Unternehmen und anderen Institutionen wie Regierungen, Gerichte, Gewerkschaften und so weiter.
Nationale Niederungen
Beide Lager haben völlig unterschiedliche Interessen: Die Multis wollen dort produzieren, wo Kosten und Kaufkraft am geringsten sind, und sie wollen ihre Produkte möglichst dort verkaufen, wo sie dafür die höchsten Preise lösen können. Das typische kleine und mittlere Unternehmen (KMU) hingegen verkauft seine Produkte – vereinfacht gesagt – denen, die sie auch produzieren. Sie ahnen zumindest noch, dass sie mit ihrer Lohnpolitik auch die eigene Nachfrage beeinflussen.
Im Rahmen des TTIP äußert sich diese unterschiedliche Interessenlage beispielsweise so, dass die Multis Sicherheit für ihre Investitionen haben wollen. Das wollen die nationalen KMU zwar auch, doch sie müssen ihre Interessen im Rahmen der nationalen Politik oder Gerichtsbarkeit geltend machen. Die Multis hingegen haben keine Lust, sich in diese nationalen Niederungen zu begeben. Sie fordern deshalb übernationale Schiedsgerichte, bei denen sie sich gegen nationale Gesetze wehren können. Beispielsweise gegen neue Umweltschutzbestimmungen, die ihre Kosten erhöhen, die Gewinne schmälern und somit ihre Investitionen entwerten. Aus der Sicht von Investoren kommt das einer „Enteignung“ gleich. Sie besitzen zwar immer noch dieselbe Fabrik, doch wenn diese nur noch halb so viel Gewinn machen kann, halbiert sich ihr „diskontierter Ertragswert“.
Ähnlich verhält es sich mit dem nationalen Arbeitsrecht und Lohnfindungsprozessen. Auch hier streben die Multis möglichst einheitliche Lösungen an. Dazu sind sie allerdings nicht auf übernationale Schiedsgerichte angewiesen. Sie können ihre Ansprüche vielmehr mit der Drohung von Auslagerungen durchsetzen. Dabei geht es letztlich um sehr viel, nämlich um die Möglichkeit, überhaupt noch nationale Wirtschaftspolitik zu betreiben – auf der Ebene der Politik und der Sozialpartnerschaft. Wohin es führt, wenn man die Mechanismen der nationalen und lokalen Wirtschaftspolitik lahmlegt, kann man im von der EU-Kommission streng regulierten Euroraum sehen: Die Konsumenten sind verunsichert, weil niemand mehr ihre finanziellen Interessen verteidigt, Konsum und Wirtschaft stagnieren, und die nationalen politischen Instanzen sind diskreditiert.
Global konzeptlos
Das TTIP wird die Entmachtung der lokalen und nationalen Kräfte weiter vorantreiben. Dieser Nachteil ist zwar schwerwiegend, doch seine Wirkung ist diffus, während die wenigen Vorteile – eine Steigerung der Exporte – sehr konkret sind. Zudem fallen die finanziellen Vorteile dort an, wo die finanzkräftigsten Lobbys sitzen. Ihnen gelingt es, die Vorzüge des TTIP in den buntesten Farben zu schildern. Die Bertelsmann-Stiftung etwa verspricht 750.000 zusätzliche Jobs allein in den USA und jährlich rund 800 Dollar mehr Kaufkraft pro Haushalt. Dabei zeigt die Erfahrung, dass die Schaffung größerer Freihandelszonen wie etwa der EU-Wirtschaftsraum von 1992 das Wirtschaftswachstum eher verlangsamt als beschleunigt hat. Das ist erklärbar: Große Wirtschaftsräume stärken die Macht der Multis, die wiederum mit ihrer Lohnpolitik die Massennachfrage an ihren Produktionsstandorten dämpfen.
Doch der immer freiere Austausch von Waren, Dienstleistungen, Arbeitskräften und Kapital hemmt nicht nur Wachstum und Beschäftigung in den Industrieländern. Er ist auch zumindest eine der Ursachen der immer bedrohlicheren Migrationsprobleme. Wie will ein Land, das technologisch 100 Jahre hinter der Konkurrenz herhinkt, seine eigene Wirtschaft entwickeln, wenn die kaufkräftige Oberschicht 90 Prozent ihres Bedarfs viel billiger im entwickelten Ausland erwerben kann? Und selbst, wenn es mal gelingen sollte, die Produktionsstätte eines Multis im eigenen Land anzusiedeln, ist damit wenig gewonnen. Multis bleiben, solange die Löhne tief sind. Mit der Kaufkraft ihrer Angestellten lässt sich kaum ein lokales Dienstleistungsgewerbe entwickeln.
Auch bei uns war der Übergang von der Agrarwirtschaft ins Industriezeitalter ein äußerst schwieriger Prozess mit vielen sozialen Verwerfungen. Doch damals blieb einem Land fast keine andere Wahl, als sich aus sich selbst, mit der eigenen Nachfrage zu entwickeln. Es gab noch keine Multis, die mit Auslagerungen drohen konnten. In diesem relativen Gleichgewicht der Kräfte konnten sich Gewerkschaften behaupten, war lokale Reputation für die Unternehmer ein wichtiges Kapital, und nationale, ja sogar lokale Regierungen konnten noch aktive Wirtschaftspolitik betreiben. Und weil viele Regionen und Länder mit unterschiedlichem Erfolg vieles ausprobiert haben, ergaben sich Entwicklungsmuster.
Für eine globale Wirtschaft gibt es dieses Erfolgsrezept (noch?) nicht. Der Wohlstand mag noch leicht steigen, aber dieser Zugewinn wird mit mehr sozialem Stress erkauft. Die Globalisierung hat ihr Versprechen von mehr Wohlstand durch Spezialisierung und Effizienzgewinn offensichtlich nicht eingelöst. Im Gegenteil: Der Wohlstand hinkt immer weiter hinter dem technologischen Potenzial her.
Vor diesem trüben Hintergrund wäre das TTIP-Projekt eigentlich der Anlass für eine Grundsatzdiskussion: Wollen wir wirklich noch mehr von diesem Zeug? Brauchen wir noch mehr Wachstum und wann welches? Gibt es auch nationale und lokale Wachstumsmodelle?
Die TTIP-Diplomaten und – Detailhuber sind mit solchen Fragen sichtlich überfordert. Schicken wir sie nach Hause. Zurück auf Start.
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